Viele, die mit den Lehren der Christlichen Wissenschaft einigermaßen vertraut sind, suchen gewisse absolute Sätze im Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift mit ihrer eignen beschränkten menschlichen Erkenntnis und Erfahrung in Einklang zu bringen, und dies erzeugt oftmals geistige Verwirrung, wodurch dem Zweifel und der Entmutigung die Tür geöffnet wird. Wenn nun die Betreffenden nur einige der einfacheren Sätze annehmen wollten, die die Grundlehren oder die Voraussetzungen der Christlichen Wissenschaft bilden, genau wie sie die grundlegenden Tatsachen oder Sätze annehmen, auf die sich die Wissenschaft der Mathematik aufbaut, und wenn sie dann die Wahrheit dieser Sätze durch praktische Anwendung, durch „mitfolgende Zeichen” beweisen wollten, so würde bei ihnen keine Ungewißheit mehr herrschen.
Die Schüler der Christlichen Wissenschaft sind sich bisweilen nicht klar, wie das menschliche Gemüt eine Kenntnis von Gott erlangen oder wie das göttliche Gemüt auf das menschliche wirken kann, wo doch die Christliche Wissenschaft lehrt, daß der Geist und die Materie, das göttliche Gemüt und das sogenannte sterbliche Gemüt, absolute Gegensätze sind, also miteinander nichts gemein haben. Mit andern Worten: wie kann das göttliche Gemüt, das nur das Geistige, das Gute kennt, nicht aber die Materie, das Böse — wie kann es die Gebete und Wünsche des menschlichen Gemüts kennen, das Sehnen des Herzens befriedigen, die Kranken heilen oder materielle Gesetze aufheben? Daß Gottes Macht und Gegenwart sich im Bereich des Sinnlichen kundtut, wird durch die vielen Berichte in der Geschichte der Kinder Israel bestätigt, desgleichen durch die Erfahrungen der Propheten und durch das Leben und die Werke Christi Jesu. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 427) sagt Mrs. Eddy: „Das unsterbliche Gemüt, das alles regiert, muß im sogenannten physischen Reich sowohl wie im geistigen als allerhaben anerkannt werden.”
Bisweilen hilft uns eine einfache Beobachtung in der Natur zu einem besseren Verständnis geistiger Wirklichkeiten, und so vielleicht auch im vorliegenden Fall. Wir wollen einmal die Entwicklung und die Übergangsstadien einer Blume betrachten, bis diese schließlich in ihrer ganzen Vollkommenheit und Schönheit prangt. Der kleine Same sieht farblos aus und scheint wertlos zu sein. Er weist nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit der schönen Pflanze oder Blume auf, die ihm entsprießen wird. Im Frühjahr wird er in die Erde gepflanzt, wo es dunkel, kalt und feucht ist. Allem Anschein nach weiß er nichts von der Sonne, weil eine Erdschicht ihn von ihren Strahlen trennt. Desgleichen kann die Sonne von dem Samenkörnlein nichts sehen, noch kann sie um sein Vorhandensein wissen, weil es in der Erde gebettet liegt und ihre Strahlen nicht zu ihm dringen. Nun könnte man annehmen, daß der kleine Same immer so bleiben müsse, weil ja die Sonne ihn nicht erreicht. Dem ist aber nicht so. Im Gegenteil, er fühlt den belebenden Einfluß des warmen Sonnenscheins und des erquickenden Regenschauers und beginnt sich allmählich auszudehnen, worauf er seine Gefängniszelle sprengt und einen winzigen Schoß zum Sonnenlicht emportreibt. Bald erscheint die kleine Pflanze über der Oberfläche, und jetzt, wo sie dem Sonnenlicht ausgesetzt ist, fängt sie an, sich zu entfalten, Blätter zu treiben und Farbe und Gestalt anzunehmen.
Die Änderung, die vor sich geht, ist anfänglich für uns gar nicht bemerkbar; sobald aber die Pflanze über dem Erdboden erscheint, können wir ihr Wachstum und ihre Entwicklung beobachten. Dieses Wachstum hält an, bis schließlich eine schöne Blume sich entfaltet, die die mannigfachen Farben der Sonnenstrahlen trägt und wie aus Dankbarkeit die Luft mit ihrem Duft erfüllt. Was ist aber inzwischen aus dem kleinen Samen geworden? Durch einen Zersetzungs- oder Aufsaugungsprozeß ist er allmählich verschwunden, bis nichts mehr von seinem früheren Selbst zurückgeblieben ist. Die Blume aber mit all ihrem Duft und ihrer Schönheit weiß nichts von dem Samen, dem sie entsproß.
Auf Seite 115 von Wissenschaft und Gesundheit spricht Mrs. Eddy von den Graden in der Übertragung des sterblichen Gemüts. Diese Übertragung ist der allmählichen Verwandlung des Samens in eine Pflanze ähnlich, bis schließlich die Blume erscheint. Den ersten Grad kann man mit der Zeit vergleichen, da der Same im Erdboden ruht. Er entspricht einem einzelnen Sinnenbewußtsein, welches von dem Wahn umfangen ist, daß Leben in der Materie sei. Dieses Sinnenbewußtsein steht unter der Herrschaft materieller Vorstellungen und Gesetze. Es sucht Glück und Wohlergehen durch das Zwischenmittel der physischen Sinne und weiß nichts vom Sonnenlicht der Wahrheit, nichts von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Dennoch ist in jedem solchen menschlichen Bewußtsein ein wenn auch noch so schwacher Wunsch vorhanden, besser zu sein und Gutes zu tun. Dies ist der Same des geistigen Strebens, der früher oder später, wenn er den belebenden und erneuernden Einfluß der göttlichen Liebe verspürt, zu sprossen beginnt, dann anfängt, sich von der Dunkelheit und vom Bösen abzuwenden, um schließlich zum Sonnenlicht der göttlichen Gegenwart emporzuwachsen.
In diesem Zustand oder Übergangsstadium entsteht im sterblichen Gemüt Unzufriedenheit. Dieses Gemüt kommt zu der Einsicht, daß die Sinne keine dauernden Freuden bieten, sondern nur Disharmonie, Entmutigung, Krankheit und Tod. Dann verspürt es das Verlangen, die Fesseln zu sprengen, die es in der Dunkelheit der falschen materiellen Sinnenvorstellung halten, und es regt sich das Sehnen nach der wahren Erkenntnis Gottes. Dem erwachenden Sinn wird durch dieses Emporstreben der erste schwache Lichtstrahl zuteil, der zum Verständnis der Wahrheit führt, wie sie durch die Christliche Wissenschaft geoffenbart wird. Auf dieser Stufe befindet sich das sterbliche Gemüt in einem Zustand bloßen Wähnens und wird auf den verschlungenen Pfaden menschlicher Theorien irregeführt. Es sucht Gesundheit durch materielle Mittel zu erlangen, Glück durch die Sinne zu erhaschen und Gott durch menschliche Lehren und Bekenntnisse erkennen zu lernen. Es weiß nicht, wohin es geht oder wohin es sich wenden soll, macht aber dennoch einigen Fortschritt in der rechten Richtung.
Der zweite Grad oder das nächste Stadium bedeutet eine Entwicklung, die mit der der Pflanze verglichen werden kann, wenn sie durch die Oberfläche dringt und unter der Einwirkung der Sonnenstrahlen emporwächst und gedeiht. Erst bilden sich kleine Blätter, dann Zweige, und schließlich erscheint die Knospe, die sich bald zur Blüte entwickelt. So ist es auch mit dem menschlichen Bewußtsein: es ist aus seinem Traum, daß Leben in der Materie sei, aufgeweckt worden und fängt allmählich an, den Menschen im Bilde Gottes zu erkennen. Dieses Bewußtsein bedeutet den Anbruch eines neuen Tages, vor dem die Schatten der Disharmonie und Krankheit anfangen zu schwinden. Die Entfaltung der Christus-Idee im Bewußtsein, die Empfänglichkeit für den neugestaltenden Einfluß macht sich zunächst als bessere Gesundheit und bessere Gesinnung fühlbar, sie bekundet sich durch größere Demut und Barmherzigkeit, durch mehr Liebe zu Gott und zu der Menschheit. Während dieser Entwicklungszeit gibt es oft Prüfungen und Schwierigkeiten; Furcht und Zweifel suchen die Oberhand zu gewinnen, und Versuchungen treten einem in den Weg. Diese Erfahrungen sind aber nur Gelegenheiten, Gottes Macht, Gegenwart und beschützende Fürsorge in höherem Maße zu beweisen; sie sind Meilensteine, die Fortschritt auf der Wanderung anzeigen.
Beim dritten Grade oder auf der dritten Entwicklungsstufe kommt es zum Bewußtsein oder zur Kundwerdung der Vollkommenheit. Wenn die Blume in all ihrer Vollkommenheit und Schönheit erscheint, dann denken wir nicht mehr an den Samen, auch nicht mehr an die Pflanze, der die Blume scheinbar entsprossen ist. Der scheinbare Entwicklungsprozeß ist erforderlich, weil das menschliche Gemüt so zäh an materiellen Gesetzen festhält. Richtig betrachtet sind jedoch weder der Same noch die Pflanze zum Erscheinen der Blume nötig. Die Blume ist nicht der Same, und selbst ehe die Blume erschien, war der Same vergangen, zu Erde geworden — dem Sinnbild der Nichtsheit. So geht es auch dem menschlichen Gemüt auf dieser Entwicklungsstufe. Bloßes Wähnen und Glauben wandelt sich in geistige Erkenntnis, und in dem Maße wie der Sinnentraum schwindet, sieht dieses Gemüt in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen im Bilde Gottes. Auf dieser Stufe „verschwindet das sterbliche Gemüt, und der Mensch als Gottes Bild erscheint” (Wissenschaft und Gesundheit. S. 116). Der menschliche Sinn ist sich dann nur Gottes und Seiner Schöpfung bewußt. Diese Erfahrung machte Jesus. Sie war die sogenannte Himmelfahrt. Auf dieser obersten Stufe des Fortschritts wird der letzte Feind, nämlich der Tod, besiegt und vernichtet.
Das sterbliche Gemüt ist nur eine Nachbildung. Es hat noch nie das göttliche Gemüt wiedergespiegelt und wird es nie wiederspiegeln. Wenn das göttliche Gemüt erscheint, schwindet das sterbliche Gemüt, und das Wesen des von Gott geschaffenen Menschen kommt ans Licht. Das sterbliche Gemüt ist die Summe aller materiellen Sinnesvorstellungen, und der Wandel, der sich im menschlichen Bewußtsein vollzieht, ist das Zurücktreten oder Schwinden dieser falschen materiellen Vorstellungen und das Erlangen jener Sinnesart, die Christus Jesus bekundete. Mrs. Eddy hat diesen Wandel in der menschlichen Erfahrung in wundervoller Weise auf Seite 531 von Wissenschaft und Gesundheit zum Ausdruck gebracht. Sie sagt: „Das menschliche Gemüt wird sich einst über den ganzen materiellen und physischen Sinn erheben, denselben gegen die geistige Wahrnehmung, und menschliche Begriffe gegen das göttliche Bewußtsein austauschen. Dann wird der Mensch seine gottgegebene Herrschaft und sein gottgegebenes Sein erkennen.”