Das Leben Christi Jesu veranschaulicht die Unmöglichkeit, das Christentum, die Wahrheit über des Menschen Beziehung zu Gott und von des Menschen Pflichten zu seinem Nächsten, anders als in Worten der Liebe richtig darzulegen. Ebenso unmöglich ist es, des Meisters Lehren richtig zu verstehen und auszuüben, es sei denn, man bringt die göttliche Liebe zum Ausdruck. Wäre es möglich, einen Menschen gänzlich von der Liebe, seinem göttlichen Ursprung, zu trennen, ihn seines liebevollen Wesens, seiner Sanftmut und Güte zu berauben, so würde, insoweit er in Betracht kommt, nichts übrig bleiben, was von dem Dasein Gottes zeugte. Ein solcher Mensch wäre aber ein Unding.
Andrerseits können die Übel, die die Menschheit in Banden halten und deren Vorhandensein im menschlichen Bewußtsein das Erscheinen Christi Jesu notwendig machten, nur in Worten ausgedrückt werden, die der Liebe entbehren. Es gibt keine Ausdrucksweise, die das Gegenteil der göttlichen Herrschaft bezeichnet, ohne zugleich das Gegenteil der Liebe zu bezeichnen. Die Sterblichen haben vergebens getrachtet, glücklich zu sein, ohne ihren Nächsten zu lieben. Könige, Regierungen und Völker haben so vielfach in ihren Ratschlüssen und Verordnungen die Liebe außer acht gelassen, haben ihr im Verkehr mit andern Nationen keine Beachtung geschenkt, und dies hat noch jedesmal zu einem unseligen Ende geführt. Es konnte nicht anders sein und wird auch in Zukunft nicht anders sein. Niemand hat je ein Mittel gefunden, das die Liebe ersetzen könnte, und niemand wird je ein solches finden. Man kann die Liebe nicht aus dem eignen Leben verlieren, ohne zugleich ihrer Segnungen verlustig zu gehen. Die Liebe aus dem Bewußtsein ausschließen heißt alles fernhalten, was das menschliche Dasein erleuchtet und beglückt, und allem Einlaß gewähren, was erniedrigt und entweiht.
„Wir haben nichts zu fürchten,” schreibt Mrs. Eddy, „wenn Liebe am Steuer des Denkens steht, sondern wir können uns an allem freuen, was auf Erden und im Himmel ist” (Miscellaneous Writings, S. 113). Könnten das Himmelreich und die Mittel, mit denen es erlangt werden kann, klarer dargelegt werden? Es erfordert in der Tat nicht viel Einbildungskraft, um sich zu denken, wie ganz anders es in der Welt aussehen würde, wenn in allen Ländern die Liebe am Steuer des Staatsschiffes gestanden hätte. Ein jeder kann sich vorstellen, wie viel günstiger sich seine eignen Erlebnisse und Erfahrungen gestalten würden, wenn die Liebe alle seine Gedanken beherrschte. Man braucht kein Prophet zu sein, um einzusehen, welch hohen Segen die Menschheit empfangen würde, wenn sie den von der Liebe gewiesenen Pfad innehielte.
Die Sterblichen sind ein von Furcht beherrschtes Geschlecht, das überall Hilfe sucht, nur nicht da, wo sie zu finden ist. Johannes gibt „völlige Liebe” als das Mittel gegen Furcht an. „Furcht ist nicht in der Liebe,” schreibt er, und er deckt die Ursache furchtsamer Gedanken mit dem scharfen Tadel auf: „Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.” Ist es somit nicht die Pflicht eines jeden Christen, seine Furcht dadurch zu überwinden, daß er mehr Liebe und völligere oder vollkommenere Liebe zum Ausdruck bringt? Wenn wir Gedanken des Hasses, der Bosheit, der Rache hegen oder uns von andern ähnlichen Irrtümern beherrschen lassen, dürfen wir dann erwarten, den von ihnen hervorgerufenen Furchtgefühlen zu entgehen? Christus ließ nie auch nur die geringste Andeutung fallen, daß es einen andern Weg gebe als Liebe zu Gott und den Menschen an den Tag zu legen; denn das Himmelreich, sagte er, sei im eignen geistigen Bewußtsein.
Das Wort Liebe kommt so leicht, ja manchmal recht gedankenlos über unsre Lippen. Wenn wir nicht auf der Hut sind, erzeugt unser Vertrautsein mit dem Buchstaben des Christentums leicht Gleichgültigkeit gegen seinen Geist. Es ist verhältnismäßig leicht, unsre Rede von der Liebe beherrschen zu lassen, aber nur liebevolle Gedanken begleiten die Wiederspiegelung des göttlichen Geistes. Die menschliche Erlösung kann allein durch die Beweisung der göttlichen Liebe Zustandekommen, denn lieblose und selbstsüchtige Gedanken sind nicht von Gott, der die Liebe ist, und können die Sterblichen nicht von der Sünde und ihren Folgen befreien.
Wer möchte gerne an Bord eines Schiffes sein, dessen Steuer sich in ungeschickten Händen befindet, oder dessen Steuermann absichtlich einen gefährlichen Kurs einschlägt? Aber verhalten wir uns nicht oft gleichgültig in bezug auf den Kurs, den unser Bewußtsein verfolgt? Alles, was uns veranlassen möchte, unserm Nächsten ein Unrecht zuzufügen oder uns auf Kosten eines andern hervorzutun, sollten wir als unsern schlimmsten Feind betrachten. Was seinem Wesen nach der Liebe entgegengesetzt ist, ist ein Dieb und Mörder, und wo man es walten läßt, führt es Schaden und Zerstörung herbei.
Die Sache ist durchaus nicht schwer zu verstehen. Jedermann weiß, ob die Liebe am Steuer seines Denkens steht oder nicht; aber nicht jedermann bedenkt die Folgen, wenn dies nicht der Fall ist. Die Frage ist nicht, ob wir können, sondern, ob wir wollen. Ein jeder kann Liebe bekunden, wenn er es ernstlich versucht; und wie schwach ein Sterblicher auch sein mag, seine Liebe kann er stets betätigen, solange dies sein ernster Wunsch ist. Haß, Selbstsucht, und ähnliche Gefühle sind nichts als Betrüger und haben ohne unsre Einwilligung nicht die geringste Macht, in unser Bewußtsein einzudringen oder es zu beherrschen. Das Böse ist nicht intelligent und kann uns keinen Moment anhaften, nachdem wir es einmal fahren gelassen haben.
Einander lieben bedeutet nicht, sich jener Gefühlsseligkeit hinzugeben, die dem Gegenstand der Liebe alles nachsieht, noch seine eigne Meinung der Meinung andrer unterzuordnen, aus Furcht, man könne Anstoß erregen. Die Liebe ist göttliche Intelligenz. Von der Liebe regiert sein heißt also nicht, sich persönlichen Launen zu unterwerfen, sondern sich vom göttlichen Prinzip leiten zu lassen. Die Liebe kann als jener Bewußtseinszustand bezeichnet werden, der nichts übles Senkt; und der Prüfstein für alles gute Denken ist in der sogenannten goldenen Regel zu finden, die so einfach ist, daß sie ein jeder verstehen kann.
Zu lieben und der Liebe würdig zu sein, ist eine absolute Bedingung zu einem harmonischen Leben, und jeder wahre Christ ist bestrebt, sich dieser Christusnorm zu nähern. Es gibt kein andres Mittel, den Zweck des Christentums zu erreichen, die Menschheit aufzurichten, die Sünder zu bekehren, die Irrenden auf die rechte Bahn zu lenken und „Friede auf Erden” herbeizuführen, als die Tätigkeit der Liebe im menschlichen Bewußtsein. Ohne Liebe, sagt Paulus, „wäre ich nichts.” Was würden wir noch haben oder sein, wenn wir unserm Bewußtsein die Liebe entzögen? Der Mangel an wahrer Liebe ist an allem Elend und Leiden der Menschheit schuld, während andrerseits ihr belebender Einfluß die göttliche Erlösung herbeiführt.
Dieser Tatsache müssen die Christlichen Wissenschafter ganz besonders eingedenk sein, denn mehr als alle andern Christen bauen sie auf die Erklärung, daß Gott Liebe ist. Daher ist die Liebe für sie die einzige Intelligenz und Macht. Das kann nur heißen, daß alles, was nicht die Liebe zur Grundlage hat, nicht auf einer richtigen Grundlage beruht; daß Gedanken, die der Liebe entbehren, keine richtigen Gedanken sind und nicht wert sind, gehegt zu werden. Niemand von uns darf außer acht lassen, daß, wenn wir nicht willens sind, die Liebe am Steuer unsres Denkens walten zu lassen, wir nicht willens sind, Christliche Wissenschafter zu sein. Wir tun gut, dieser Sache offen zu begegnen und uns sofort in richtiger Weise an die Arbeit zu machen, denn die Liebe allein verfügt über den Schlüssel zu unserm Frieden und Glück, „im Himmel, also auch auf Erden.”
Man sollte sich darüber klar sein, daß die Christliche Wissenschaft, die zeitgemäße Darlegung des Urchristentums, nicht anders richtig gelehrt werden kann, daß die Tätigkeit, die Gelegenheiten und Wichten ihrer Schüler nicht anders ausgedrückt werden können als in Worten der Liebe. Solange der Christliche Wissenschafter den Anforderungen der Liebe nicht gehorcht, ist er seiner Kirche gegenüber nicht treu und trägt nichts zu ihrem Heilungswerk bei. Könnte er dieses Gehorsams enthoben und von dem geistigen Ideal, das diese Kirche verkörpert, getrennt werden, könnte er seiner Treue gegen die Vorschriften, die unsre erleuchtete Führerin, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, im Interesse unsrer Sache erlassen hat, beraubt werden, was würde ihm noch übrig bleiben, das zur Förderung des wohltätigen Zwecks unsrer Bewegung beitragen könnte? Dies alles zeigt uns, wie wichtig es ist, daß wir das falsche Ichgefühl beseitigen und die göttliche Liebe allein unser Denken regieren und unsern Verkehr mit der ganzen Menschheit leiten lassen.