Wir leben in einer Stunde, die Opfer verlangt. Menschen und Völker haben Selbstvergessenheit und rückhaltlose Treue gelobt, haben sich verpflichtet, alles daranzugeben, was sie, menschlich gesprochen, lieben und besitzen, damit die Welt von der Herrschaft des Bösen befreit werde. Was ist nun das Wesen dieser Treue? Was inspiriert zu diesem großen Opfer materieller Dinge, zu dieser Dahingabe des Rechtes, eigene Ziele und Zwecke zu verfolgen, zu diesem Aufgeben des menschlichen Begriffs vom Leben, falls solches notwendig wird, um der Welt eine wahrere Auffassung von Leben und Freiheit zu bringen?
Die Tage der oberflächlichen Deutung des gegenwärtigen Weltkampfes sind vorüber. Eine Nation nach der anderen wurde in diesen Konflikt hineingezogen, ob sie es wollte oder nicht, und eine Person nach der anderen mußte ihre Untertanstreue prüfen und berichtigen. Die unbestimmten und veränderlichen Anschauungen gestalteten sich zuletzt zu der Überzeugung, daß es sich um einen Kampf zwischen demokratischen und autokratischen Idealen der Regierung handele. Wie steht es aber um den Ursprung dieser Ideale? Es wird in unserer Zeit ein genauer Unterschied gemacht zwischen Geistigkeit und Materialität, zwischen dem schöpferischen göttlichen Gemüt samt seinen geistigen Phänomenen und dem falschen fleischlichen Gemüt mit seinen Sinnen-Phänomenen, und allenthalben fühlen sich die Menschen veranlaßt, die tiefere Bedeutung dieses Weltkrieges zu erforschen.
Denen, die verstehen wollen, offenbart die Christliche Wissenschaft das absolute Wesen des Geistes, dessen Allumfassenheit und Harmonie. Infolge dieser besseren Erkenntnis der Allheit des Geistes und der Vollkommenheit des geistigen Menschen und des geistigen Weltalls wird die Vergänglichkeit, das trügerische Wesen und die Unwirklichkeit der materiellen Welt und aller Sinnenzeugnisse erkannt. In der geistigen Wirklichkeit gibt es keinen Kampf — nichts, was wegen einer Abweichung von dem Ideal Opfer bringen oder büßen müßte, denn Gottes Ideen stehen in völlig harmonischer Beziehung zum göttlichen Prinzip. Der Begriff des Opfers ist durchaus menschlich; er läßt die Trennung des menschlichen Gemüts vom Prinzip erkennen und macht daher, im Grunde genommen, den Verzicht auf die Materialität jeder Art zur Notwendigkeit. Obschon die Geschichte lange Zeitperioden aufweist, in welchen eine verkehrte Auffassung vom Opfer zu abergläubischen und götzendienerischen Kirchenbräuchen geführt hat, so war doch das Opfer im ursprünglichen und wahren Sinne ein Sinnbild der durch die Treue gegen das Ideale bewirkten Vernichtung all der hemmenden Vorstellungen, die zwischen dem menschlichen Geist und dem göttlichen Prinzip liegen.
Je tiefer das menschliche Gemüt im Materialismus versunken ist, desto größer ist offenbar die Notwendigkeit des Opfers. Nun will aber der Materialismus kein Opfer bringen, und zwar deshalb nicht, weil er keine Kenntnis vom göttlichen Prinzip hat und einzig und allein danach trachtet, seine eigene falsche Auffassung und seinen eigenen bösen Willen aufrechtzuerhalten. Die sogenannten Opfer des Materialismus werden in Wirklichkeit dessen falschen Göttern dargebracht. Den Gelüsten und Leidenschaften wird dadurch nicht Einhalt getan, und der Materialismus wird nicht zerstört, sondern nimmt eher zu. Wahre Opfer können somit nur von denen dargebracht werden, die das göttliche Prinzip einigermaßen verstehen und aus Liebe zum Prinzip gerne den menschlichen Willen darangeben, der die klare Erkenntnis des geistigen Gesetzes und der geistigen Ordnung der Dinge verhindert. Hieraus ist zu ersehen, warum die Gerechten für die Ungerechten leiden; es erklärt die Begeisterung, die die Völker in Harmagedon geführt und aufrechterhalten hat — in dem Kampf, in dem „viele werden gereinigt, geläutert und bewährt werden,“ wie wir im zwölften Kapitel des Propheten Daniel lesen.
Jesus, der Christus, kam auf Erden, um den Menschen den Weg aus dem Fleisch zu zeigen. Er begann seine Amtstätigkeit damit, daß er während jener vierzig Tage in der Wüste die absolute Nichtigkeit des materialistischen Begriffs von Leben und Intelligenz bewies. Er wußte, daß alles, was der Mensch in Wirklichkeit besitzt, alles, was er liebt, geistig ist, völlig getrennt von der Materie. Weil er die geistige Idee erfaßt hatte, war er so gerne bereit, andere zu lehren, wie sie all die Irrtümer des sterblichen Gemüts vernichten könnten, damit den Menschen der neue Himmel und die neue Erde, frei von aller Materialität, offenbar werden möge — der Wohnort des geistigen Menschen, des Kindes Gottes. Jesus bewies, daß die vermeintliche Wesenheit und die angeblichen Gesetze der Materie unwirklich, daß die Kräfte des Bösen machtlos sind. Er tat die trügerische Natur der Krankheit und des Todes unwiderlegbar dar. Dies vermochte er deshalb, weil er wußte, daß die Gelüste und Leidenschaften des sterblichen Gemüts keine Macht über den Menschen Gottes haben — kurz gesagt, weil er die ganze Vorstellung, daß der Materie ein Leben und eine Intelligenz innewohnen, die dem Geiste entgegengesetzt sind, dem Prinzip opferte. Auf Seite 54 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ sagt Mrs. Eddy von Jesus und seiner Wirksamkeit: „Jesu Wunsch, seine teuer erkauften Schätze reichlich in leere oder sündenerfüllte, menschliche Schatzkammern hineinströmen zu lassen, war die Inspiration zu seinem großen menschlichen Opfer.“
Durch seine Bereitwilligkeit, all die nötigen Schritte aus dem falschen Begriff vom Leben in die Wirklichkeit des geistigen Seins zu tun, lehrte er nicht nur andere, wie man diese Schritte tun kann, sondern er wies auch darauf hin, wie ein jeder sie unbedingt tun muß. Durch diese rückhaltlose Hingabe seiner selbst bewies er, daß die göttliche Liebe das Prinzip seiner Demonstration und seiner Inspiration war. Auf Grund seiner eigenen Demonstration der göttlichen Liebe konnte er sagen: „Niemand hat größre Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde;“ und seine göttliche Begeisterung ließ ihn erklären: „Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.“
Nun kommt es aber auf jeden einzelnen Menschen an, ob er bereitwillig die Gelüste und Leidenschaften des fleischlichen Gemüts der Liebe zur geistigen Idee opfert und durch diese Hingabe die Freuden des Christen genießt, oder ob er durch die Leiden, die ihm sein Widerstand gegen die Wahrheit bereitet, die Nutzlosigkeit, die Nichtigkeit der Lüste des Fleisches einsehen lernt. Auf Seite 16 von Wissenschaft und Gesundheit lesen wir: „Ein großes Opfer materieller Dinge muß diesem vorgeschrittenen geistigen Verständnis vorausgehen.“ Die endliche Vernichtung der Materialität ist unausbleiblich, sei es nun, daß der Mensch sich durch den Gehorsam gegen das Prinzip über die Materialität erhebt, oder sei es, daß er durch Leiden von seiner Sinnlichkeit gereinigt wird. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Nationen nicht von Einzelwesen. Die Gesamtvorstellungen von einzelnen Personen bekunden sich als organisierte Ehrsucht, Habsucht und Gewalttätigkeit, und der Widerstand, den das organisierte Böse dem Prinzip entgegensetzt, hat den Kampf zwischen den Völkern hervorgerufen. In diesem Kampf werden die Völker und die einzelnen Menschen, welche die Wahrheit am klarsten erkannt haben, ihre volle Erkenntnis der geistigen Idee und ihre Liebe zu derselben in das menschliche Bewußtsein strömen lassen, damit der fleischliche Sinn vernichtet und Recht und Gerechtigkeit auf Erden wissenschaftlich aufgerichtet werde.
Der Siegeslauf der Demokratie, der Abstinenzbewegung und des Frauenstimmrechts, das Herannahen einer weitreichenden Neuanordnung der Dinge — dies alles läßt ersehen, daß die individuellen Einheiten, die an diesen Bewegungen teilnehmen, dem Prinzip ihre falschen Vorstellungen, ihre Gelüste, Leidenschaften und selbstsüchtigen Bestrebungen des sterblichen Gemüts geopfert haben, so daß die geistige Idee, der Mensch als das Ebenbild Gottes, sie beherrschen und ihnen die Harmonie des wahren Seins offenbaren möge. Aus den Leiden in Harmagedon, aus der Läuterung der Selbstverleugnung in den Schützengräben, aus dem allgemeinen Opfer materieller Begriffe und Wünsche wird ein klareres Verständnis von den „geistlichen Opfern“ hervorgehen, „die Gott angenehm sind.“ Es ist das Opfer des Gehorsams gegen das Prinzip, ein Opfer, in dem die Allheit des Geistes und die Vollkommenheit des geistigen Menschen anerkannt und demonstriert wird. Nur die Erkenntnis Gottes und des geistigen Menschen hat Macht, das sterbliche Gemüt und die Kundwerdungen der Sinnlichkeit zu vernichten und die Welt zu einem passenden Aufenthaltsort für den Menschen zu machen. „So euch nun der Sohn freimachet, so seid ihr recht frei,“ sagte Jesus; und Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit auf Seite 201: „Wahrheit schafft eine neue Kreatur, in der das Alte vergeht, und ‚alles neu worden‘ ist. Leidenschaften, Selbstsucht, falsche Begierden, Haß, Furcht, alle Sinnlichkeit weichen der Geistigkeit, und die Überfülle des Seins ist auf seiten Gottes, des Guten.“