Jesu Gebrauch von Gleichnissen, um Grundwahrheiten einzuprägen, war überaus wirksam. Er war in der Tat ein Meister in der geschickten Anwendung dieser Redeweise. Einige seiner wichtigsten Lehren faßte er in Gleichnisse und Sinnbilder, einesteils wegen der Wirkung dieser eindrucksvollen Sprachformen, andernteils um, wie er sagte, seine Wahrheitsperlen denen vorzuenthalten, die nicht bereit waren, sie zu empfangen.
Eines der bekanntesten und wichtigsten seiner vielen Gleichnisse ist die ansprechende Geschichte vom verlorenen Sohn, der sein Vaterhaus, eine Stätte des Friedens und der Fülle, verließ und ein schwelgerisches und liederliches Leben führte. Erschöpft, seines ausschweifenden Treibens müde, verarmt und reumütig kehrte er schließlich ins Elternhaus zurück, wo ihn ein liebender und verzeihender Vater mit offenen Armen empfing. Das zur Feier der Rückkehr des jüngeren Sohnes veranstaltete Freudenfest gefiel dem älteren Bruder so wenig, daß er dem Vater klagte: War er nicht ein gehorsamer Sohn gewesen, der sein Vaterhaus liebte? Doch waren für ihn nie Festlichkeiten veranstaltet worden. Nie war für ihn ein gemästetes Kalb zu einer Feier geschlachtet worden! Die Antwort des Vaters enthält, wenn man über die darin enthaltene geistige Bedeutung nachdenkt, eine der bedeutendsten Erklärungen, die der Meister je äußerte: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein”. Alles, was der Vater besaß, war dem gehorsamen Sohn zur Verfügung gestanden, so oft er Gebrauch davon machen wollte — er brauchte es nur zu beanspruchen und sich zu eigen zu machen. Er hatte keinen Mangel, keine Entbehrung gelitten. Des Vaters ganzer Reichtum gehörte ihm.
Die Lehre, die Jesus durch dieses ansprechende Gleichnis übermittelte, ist für die Sterblichen von größter Wichtigkeit. Wer das Vaterhaus verläßt — der Sterbliche, der sich an einen materiellen Sinn von Leben und Substanz klammert,— schließt sich selber von der Fülle aus, die der all-liebende Vater für alle Seine Kinder vorgesehen hat. In Seiner freigebigen Fürsorge für Seinen Sprößling mangelt es an nichts.
In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 475) erklärt Mrs. Eddy, daß der Mensch „alles seinem Schöpfer Zugehörige geistig widerspiegelt”. Daher besitzt der Mensch durch Widerspiegelung alle Eigenschaften, Merkmale und alle Substanz des Geistes, Gottes. Diese Widerspiegelung bildet nun den Besitz. Wie bedeutungsvoll! Die Allmacht, die Allwissenheit, die Allgegenwart und die Substanz des Guten, die wesentlichen Eigenschaften Gottes, sind durch Widerspiegelung des Menschen wahres Erbe. Alles gehört ihm, d. h. der wirkliche Mensch, der Sohn Gottes, besitzt bewußt und ewig alle Eigenschaften und Merkmale Gottes. Aber wohlgewerkt, diese Erklärung bezieht sich nur auf den wirklichen Menschen, Gottes Gleichnis, der diese Fülle durch Erbschaft besitzt. Etwas, sogar viel, müssen die Sterblichen tun, um dieses Erbe der Kinder Gottes, das der wirklich Mensch jetzt und immerdar in vollem Maße besitzt, anzutreten.
Im Gleichnis schickte der Vater seiner Versicherung, daß der Sohn diesen Reichtum vollständig besitzt, die wichtige Erklärung voraus: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir”. In seiner geistigen Auslegung bedeutet dies offenbar, daß der Sohn Gottes nie vom Vater abwesend, nie von Gott getrennt war und daher immerdar im Besitze seines göttlichen Erbes ist. Als die Widerspiegelung des unendlichen Gemüts lebt der Mensch ewig und beständig in dem sicheren Bewußtsein der göttlichen Gegenwart. Er ist sich bewußt, daß er durch Widerspiegelung ewig alles besitzt, was Gott hat. Und da der Mensch als Idee von seinem Ursprung, dem Gemüt, das Gott ist, nie getrennt sein kann, kann er überdies nie aufhören, dieses göttliche Erbe zu besitzen. Es kann weder aufgegeben noch eingehandelt werden. Wie wahrhaft der Vater also sagen kann: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein”!
Es ist nun klar, daß wir als Sterbliche lernen müssen, die göttliche Gegenwart zu erlangen und in diesem Bewußtseinszustand zu bleiben, um an dem teilzunehmen, was uns göttlich gehört. Wie dies erreicht wird, gerade das enthüllt die Christliche Wissenschaft der Menschheit. Mrs. Eddy zeigt, daß der verlorene Sohn die sterbliche Auffassung vom Menschen mit ihren irrigen Annahmen über Gott, über des Menschen wahres Selbst —über die Schöpfung — ist. Sie tut noch mehr. Sie zeigt auch, wie man vorgehen muß, um das Erbe zu erlangen. Die Christliche Wissenschaft beleuchtet und erläutert die bestimmte hierauf bezügliche Erklärung des Paulus: „Stellet euch nicht dieser Welt gleich”, d. h. nehmet nicht mehr den materiellen Sinn von Leben, Substanz und Schöpfung an, nehmet nicht mehr das Sinnenzeugnis als zuverlässig an! „Sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes”, d. h. ergreifet die geistige Wahrheit, die Wahrheit über Gott und den Menschen und das Weltall — nehmet den Christus an — und lernet verstehen, was der „gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille” ist. Durch diesen Vorgang werden die Sterblichen inne, daß des Menschen wahres Selbst ewig im wahren Bewußtsein weilt, wo der Mensch als „Miterbe Christi” jetzt im vollen Besitz der Verleihung des Vaters ist, weil er nie außerhalb der göttlichen Gegenwart war, nie aufgehört hat, sein gottverliehenes Erbe zu besitzen.
Unsere Führerin faßt es mit der ihr eigenen Überzeugungskraft folgendermaßen zusammen (Wissenschaft und Gesundheit, S. 264): „Die Sterblichen müssen über die vergänglichen, endlichen Formen hinausblicken, wenn sie den wahren Sinn der Dinge gewinnen wollen”. Und weiter unten fügt sie hinzu: „Wenn die Sterblichen richtigere Anschauungen über Gott und den Menschen gewinnen, werden zahllose Dinge der Schöpfung, die bis dahin unsichtbar waren, sichtbar werden. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Leben Geist ist, nie in noch von der Materie, so wird sich dieses Verständnis zur Selbstvollendung erweitern und alles in Gott, dem Guten, finden und keines andern Bewußtseins bedürfen”.
Wie diese geistige Wahrheit zu erlangen ist, läßt sich vielleicht durch die Erfahrung eines Kindes beim Erlernen des Rechnens einigermaßen veranschaulichen. Das Kind beginnt mit den einfachsten Tatsachen: zwei und zwei ist vier. Bei den allgemein üblichen Unterrichtsweisen wird seiner Vorstellung an Hand von Gegenständen nachgeholfen. Es werden vier Blöckchen zusammengelegt; das Kind zählt eins, zwei, drei, vier und beweist so die Wahrheit der Erklärung, daß zwei und zwei vier ist. Ist diese Tatsache einmal bewußt erfaßt, so dient sie zur Berichtigung jeder Einflüsterung, die über die Summe von zwei und zwei je auftauchen kann: sie ist nicht drei und nicht fünf, sondern vier und kann nie etwas anderes sein.
In ähnlicher Weise gewinnen wir die geistige Wahrheit, die göttliche Gegenwart. Erfassen wir eine einzige Tatsache wie z. B. Gott ist die Liebe, und halten wir mental daran fest, bis sie die Substanz unseres Denkens wird, so schließt dies die Möglichkeit aus, daß Gott irgend etwas der Liebe Unähnliches ist oder je sein kann. Lernen wir dann einigermaßen die Liebe, die göttlich ist, verstehen, so bekommen wir einen Schimmer von dem unermeßlichen Segen, in der Gegenwart der Liebe zu sein, wo der wirkliche Mensch, unser wahres Selbst, beständig weilt. So besitzen wir unser Erbe. Unsere Führerin war sich über die Anwendbarkeit dieser Erfahrung, das bewußte Verweilen in der Gegenwart der unendlichen Liebe, so sicher, daß sie in „Miscellaneous Writings” (S. 250) erklären konnte: „Ich stelle hohe Forderungen an die Liebe, verlange lebendige Zeugen, sie zu beweisen, und edle Opfer und erhabene Leistungen als Ergebnisse”. Und sie erklärt ferner: „Liebe kann nicht bloß ein leerer Begriff oder Güte ohne Tätigkeit und Kraft sein”. So kann die göttliche Liebe unser beständiger Begleiter werden, wenn wir uns hingebungsvoll an die Quelle alles Seins wenden. Was für ein Vorrecht, zu erkennen, daß es uns jetzt möglich ist, beständig und bewußt in der Gegenwart des unendlich Guten, der Allmacht, der göttlichen Liebe, des ewigen Lebens zu bleiben! Alles gehört uns durch Widerspiegelung. „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir”, und infolge dieser unschätzbaren Tatsache ist alles, was der Vater hat, jetzt das Erbe des Menschen.
Ist es, da Jesus diese wunderbare Wahrheit kannte, sich des wahren Zustandes des Menschen bewußt war, im Gegensatz zu dem Elend, dem Leiden und der Sünde, die im täglichen Lebensdrama an ihm vorüberzogen,— ist es zu verwundern, daß er über Jerusalem weinte?
Das große Bedürfnis der Welt, heute so groß wie vor alters, ist, Gott zu erkennen, sich Seiner Gegenwart, der Gegenwart des unendlich Guten, bewußt zu bleiben. Und was für ein Erbe ist dadurch zu erlangen! Alles, was der Vater hat, gehört uns jetzt. Ist es nicht unserer größten Anstrengung wert, jenen Bewußtseinszustand zu erlangen, der alle in der göttlichen Wohltätigkeit eingeschlossenen Segnungen greifbar in unser Leben bringt? Der Weg ist offen und frei. Lasset uns freudig und hoffnungsvoll und des täglichen Lohnes gewiß, den Hingebung mit sich bringt, darauf gehen!