Eine der versklavenden Annahmen des menschlichen Gemüts ist die Versuchung zu glauben, daß Umstände größer seien als wir, daß sie über uns Herr sein und uns zu unserem Schaden beeinträchtigen können, und daß wir daher die Schuld für unsere Fehlschläge mit Recht äußeren Verhältnissen zuschreiben können. Diese hinterlistige Neigung des sterblichen Gemüts scheint sehr frühe ihren Anfang in unserer Erfahrung zu nehmen. Manchmal deuten kleine Kinder, wenn sie wegen Streit beim Spiel zurechtgewiesen werden, auf einen Mitspieler und rufen: „Der hat angefangen”! Dieses Beschuldigen von jemand oder etwas scheint, wenn es nicht aufgedeckt und ausgetrieben wird, zuzunehmen. Junge Leute, die in die Schule gehen oder ins Geschäftsleben eintreten, müssen dieser Untugend entgegentreten und sie meistern, wenn sie sich schützen und ein erfolgreiches Leben führen lernen wollen.
Wenn wir alles glauben müßten, was wir zuweilen hören: Der Schüler auf der höheren Schule wäre froh, wenn er einen andern Zimmergenossen hätte; er käme im Lernen gut voran, wenn einer seiner Lehrer anders wäre; er würde sich im Sport auszeichnen, wenn seine Sportkameraden ihm Gelegenheit gäben! Später mögen wir denken, wir kämen im Geschäftsleben schnell vorwärts, wenn unser Arbeitsgeber nicht einen gewissen Irrtum beginge; wir wären gesellschaftlich erfolgreicher, wenn wir in einer andern Nachbarschaft wohnten; wir wären bessere Christliche Wissenschafter, wenn unsere Arbeit uns mehr Zeit ließe, uns darein zu vertiefen! Und so geht es weiter, mit einem andern Vorwand für jede Lage; aber alle Vorwände verraten eine auffallende Ähnlichkeit: den Versuch des sterblichen Gemüts, sich zu rechtfertigen und uns zu veranlassen, die ganze Schuld für unsere Fehlschläge, unsere Unzulänglichkeiten und unser verkehrtes Handeln in etwas außerhalb unseres eigenen Denkens zu suchen.
Christus Jesus, unser großer Wegweiser im menschlichen Leben, sagte einst: „Des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein”. Auf die hier besprochene Neigung angewandt, dürfte dies wohl bedeuten, daß unsere Gegner, unsere Feinde, die Dinge, die unsern Fortschritt aufzuhalten scheinen, nicht von außen, sondern von innen, von unserem eigenen Denken kommen. Wenn es auch nicht erfreulich ist, hierüber nachzudenken, da es die Verantwortung für unsere Niederlage unumwunden uns selber auferlegt, so bietet es uns doch gleichzeitig einen befriedigenden Anhaltspunkt zur Lösung unserer Probleme. In unserem täglichen Verkehr können wir nicht erwarten, andere Leute und andere Umstände zu unserem Gesichtspunkt zu bewegen; aber nichts kann uns daran hindern, unser eigenes Denken über eine gegebene Lage zu berichtigen. Unsere Freudigkeit oder Freudlosigkeit hängt daher nur von unserer eigenen Wachsamkeit ab, mit der wir die Türen unseres Denkens hüten.
In der Bibel finden wir den wunderbaren Bericht über das Erlebnis Josephs, der etwas von der soeben erwähnten Wahrheit erfaßt haben mußte. Von seinen eigenen Brüdern als Sklave verkauft, machte ihn sein Herr, ein Ägypter, zum Aufseher, weil er sah, „daß der Herr mit ihm war; denn alles, was er tat, dazu gab der Herr Glück durch ihn”. Später wurde er von der Frau seines Herrn fälschlich angeklagt und ins Gefängnis geworfen; aber „der Herr war mit Joseph, und was er tat, dazu gab der Herr Glück”. Als dann der König, der gehört hatte, welche Weisheit Joseph im Gefängnis bekundet hatte, fand, daß alle Weisen in Ägypten seinen Traum nicht deuten konnten, ließ er Joseph holen. Gibt uns die Antwort, die Joseph dem König gab, nicht den Schlüssel zu seiner Weisheit und seinem Erfolg? „Das steht bei mir nicht; Gott wird doch Pharao Gutes weissagen”.
Als dann später Joseph über ganz Ägyptenland gesetzt war und an Ansehen nur dem König nachstand, kam der echte Geist der Versöhnlichkeit in seinem Denken zum Vorschein. Liebevoll bereit, die grausame Behandlung zu vergessen, die ihm von seinen Brüdern widerfahren war, sorgte er für sie in der Teurung, und sagte, als er sich ihnen zu erkennen gab: „Bekümmert euch nicht und denkt nicht, daß ich darum zürne, daß ihr mich hieher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt”. So veranschaulicht Josephs Leben klar, daß er die Tatsache erfaßt hatte, daß kein äußerer Umstand, keine menschliche Lage einen, der sein Leben von Gott leiten, behüten und regieren läßt, beherrschen kann.
Durch die Lehren unserer teuren Führerin können junge Leute heute ebenso gut wie solche in reiferem Alter dem Leben siegreich entgegentreten und sicher wissen, daß kein Glaube an Vererbung, an unharmonische Umgebung, Schicksal, Zufall oder widrige Umstände sie ihres Glücks berauben oder ihnen Mißerfolg und Unheil bereiten kann. Was für trostreiche Worte Mrs. Eddy uns in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 (S. 11) gibt: „Es war nie die Absicht unseres himmlischen Vaters, daß die Sterblichen, die ein besseres Land suchen, von widrigen Umständen umhergestoßen, unentrinnbar der Sünde, der Krankheit und dem Tod verfallen als enttäuschte Wanderer am Gestade der Zeit entlang ziehen. Die göttliche Liebe will und tritt dafür ein, daß die Menschheit erlöst werde”!
