Ist jemand schon einmal versucht gewesen zu glauben, daß eine Änderung in seinen materiellen Umständen oder seiner Umgebung seine Schwierigkeiten lösen würde, oder ihm wenigstens erleichtern würde, sie zu lösen? Wer in diese Versuchung kam, war in Gesellschaft vieler anderer. Sogar Jakob, der durch sein geistiges Wachstum schließlich den Titel Israel oder Fürst Gottes errang, kam in Versuchung zu glauben, daß er fliehen müsse, weil sein Bruder Esau auf ihn erzürnt war. Auf seiner furchterfüllten Wanderung kam ihm jedoch geistiges Verständnis zu Hilfe, und er erwachte zu der Erkenntnis, daß er in der Gegenwart Gottes war und nicht irgendwo anders sein konnte.
Wir lesen in der Bibel, daß er auf seiner Wanderung „an einen Ort kam, da blieb er über Nacht; denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an dem Ort schlafen. Und ihm träumte. ... Und der Herr ... sprach: Ich bin der Herr ... ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hin ziehst. ... Da nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Gewiß ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht“ (1. Mose 28, 11–13. 15. 16).
In dem weiteren Bericht der Bibel ist beachtenswert, daß Jakob, nachdem sein Denken erweckt war, gerade in dem Stein, auf den er sein Haupt gelegt hatte, ein geeignetes Material sah, einen Altar zu errichten zur Erinnerung an Gottes Gegenwart. Was war dieser Stein? Was für Steine sind es, über die wir heutzutage stolpern, und auf denen wir vergebens von Wohlsein und Ruhe in unserer menschlichen Erfahrung zu träumen suchen?
Fast jeder aufrichtige Christliche Wissenschafter kann sich mehr als einen Anlaß ins Gedächtnis rufen, wo er auf Hindernisse zu stoßen schien, die so wenig angetan waren, geistigen Frieden und Ruhe zu bringen, wie für Jakob die Steine in der Wüste. Aber er kann auch ein herrliches geistiges Erwachen bezeugen, wo er wie Jakob erkennen konnte, daß gerade diese Hindernisse ihm ein geeignetes Mittel boten, um Altäre zu errichten — um die Allheit und Allmacht Gottes zu preisen — weil diese Hindernisse ihn zu der Erkenntnis trieben, daß mehr nötig ist als materielle Verfahren, nämlich, ein Verständnis Gottes und des Menschen.
Mitunter sagt ein Kranker, der die Wahrheiten der Christlichen Wissenschaft verstehen zu lernen beginnt: „Ich weiß, daß ich liebevoller sein muß, um geheilt zu werden.“ Aber er beharrt in seiner alten Bitterkeit und scheint die lieblose Veranlagung, die ihn in Fesseln hält, nicht meistern zu können. Ebenso wie Jakob versucht gewesen sein mag, zu glauben, daß seine tückische, hinterlistige Veranlagung und sein haßerfüllter, rachsüchtiger Bruder an seiner Verbannung schuld seien, können wir versucht sein, dadurch in unserer Knechtschaft zu verbleiben, daß wir über unsere Schwierigkeit, unsere lieblose Veranlagung, unsern halsstarrigen, eigensinnigen Vorgesetzten oder unsere undankbaren Angehörigen reden und nachdenken. Aber als Jakob sich gerade an dem Ort, wo er war, der Gegenwart Gottes bewußt wurde, hörte er zuerst die Erklärung: „Ich bin der Herr, ... Gott“. Er hörte mit andern Worten, wie die Stimme des göttlichen Prinzips erklärte: „Ich bin das All“. Der Erkenntnis der unbedingten Allheit Gottes der Einheit des Gemüts, der allumfassenden Vollständigkeit der Liebe ohne Rücksicht auf Personen, die man gern oder nicht gern hat, der Unversehrtheit des Lebens, der alles erfüllenden Gegenwart der Wahrheit, der einzigen Schöpferkraft des Geistes, der sündlosen Vollkommenheit der Seele und ihrer Kundwerdung — folgt unumgänglich die Offenbarung: „Und siehe, ich bin mit dir“.
Wenn der Christliche Wissenschafter sich anscheinend in einer Wüste befindet, wo ungelöste Schwierigkeiten seine Ruhe stören, horcht er vor allen Dingen auf jene wunderbare Erklärung: „Ich bin das All“. Er bemüht sich, in seinem Denken und seinen Erklärungen den Wahrheiten über den Menschen und seine Umgebung nicht zu widersprechen. Tritt an ihn die Versuchung heran: „Dein eigenes oder deines Nächsten liebloses Handeln hat dich in diese Lage gebracht“, so weist er sie augenblicklich durch die große Wahrheit der Allheit Gottes zurück. Er ist der Worte seiner Führerin Mary Baker Eddy im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 340) eingedenk: „Die göttliche Liebe ist unendlich. Daher ist alles, was wirklich existiert, in und von Gott und offenbart Seine Liebe.“ Er weiß, daß nichts zu ihm gehört außer dem, was er durch das Widerspiegeln der göttlichen Liebe hat, und diese Liebe enthielt noch nie einen Bestandteil von Haß, der sich eine menschliche Eigenschaft der Veranlagung nennt.
Dies bedeutet natürlich nicht, daß er sich nicht stündlich bemühen muß, in seinen menschlichen Beziehungen liebevoller zu sein; es erhebt sein Denken vielmehr zu der Wahrnehmung, daß liebevolles Denken das einzige Denken ist, und dadurch findet er, daß es für ihn immer mehr göttlich natürlich wird, Freundlichkeit und Liebe auszudrücken. Ebenso geht er nicht auf die Einflüsterung ein, daß sein Nächster ein liebloser, rachsüchtiger Sterblicher sei, und bemüht sich dann, mit diesem Nächsten auszukommen. Er erkennt vielmehr, daß diese Einflüsterung von einem lieblosen Nächsten in Wirklichkeit ein Leugnen der allumfassenden Gegenwart der Liebe ist, und daß in Wirklichkeit nur die Liebe gegenwärtig ist oder Macht haben kann. Dadurch findet er, daß die Trugvorstellung von einem haßerfüllten Sterblichen alle vermeintliche Macht in seinem Leben verliert, und daß die Kraft dieser allmächtigen Liebe in seinen menschlichen Angelegenheiten immer mehr zutage tritt.
Einer ernsten Christlichen Wissenschafterin widerfuhr einmal von jemand, den sie für vertrauenswürdig hielt, anscheinend eine große Ungerechtigkeit. Daß diese Ungerechtigkeit unter anderem auch ihren Lebensunterhalt zu beeinträchtigen schien, ließ die Schwierigkeit umso störender erscheinen, und es machten sich Gedanken des Schreckens, der Empörung, der Demütigung und der Selbstrechtfertigung geltend und suchten Einlaß. Aber sie hatte in ihrem menschlichen Leben schon sehr viel Enttäuschung erlebt und war daher tief überzeugt, daß kein materielles Verfahren die Daseinsfrage lösen kann. Anstatt daher darüber zu reden, wie ungerecht sie behandelt und beleidigt worden war; anstatt sich an der entsetzten Anteilnahme sogenannter Freunde zu erwärmen zu suchen, ging die Wissenschafterin zu einer geistiggesinnten Ausüberin der Christlichen Wissenschaft und bat demütig: „Bitte helfen Sie mir, Gott besser erkennen zu lernen.“
Damals nahm sie Wissenschaft und Gesundheit und las wieder die ersten paar Abschnitte des christlich-wissenschaftlichen Programms, das auf Seite 330 beginnt. Als die Wissenschafterin dieses Programm las und darüber nachdachte, erkannte sie immer klarer, daß sie nicht Gott und Ungerechtigkeit in demselben Weltall haben konnte. Wenn Gott für sie das All sein sollte, — und sowohl die Bibel als auch das christlich-wissenschaftliche Lehrbuch erklären, daß Er dies ist — dann konnte diese Allheit kein ungerechtes Handeln, keinen unehrlichen Sterblichen und keine zugefügte Beleidigung in sich schließen. Es war zuerst nicht leicht, jenes eigentümliche Gefühl der Erhabenheit aufzugeben, das das Erdulden einer Ungerechtigkeit einem Sterblichen zu verleihen scheint, und an dem sich das selbstsüchtige Märtyrerbewußtsein labt; aber durch ihr Forschen war es ihr so klar, daß die Herrlichkeit Gottes und das Bewußtsein einer Ungerechtigkeit nicht nebeneinander bestehen konnten, daß sie zwischen den beiden zu wählen hatte. Von der Christlichen Wissenschaft geleitet, wählte sie die Allheit Gottes und das Aufgeben eines Gefühls von zugefügtem Unrecht. Dann erkannte sie freudig, daß sie nicht nur frei war von dem sie damals bedrängenden Gefühl zugefügten Unrechts, sondern es war auch jedes Gefühl vorausgegangener Beleidigungen und der Enttäuschung durch Menschen geheilt.
Für diejenigen, die die weitreichenden Wirkungen des rein geistigen Heilverfahrens der Christlichen Wissenschaft kennen, braucht kaum hinzugefügt zu werden, daß die scheinbare Ungerechtigkeit, die der Anlaß gewesen war, bewußt eine höhere Auffassung zu suchen und zu finden, in der Erfahrung dieser Wissenschafterin eine vollständige Umkehrung erfuhr, und daß gerade die Erfahrung, die gedroht hatte, sie zu beschränken, eine größere Gelegenheit zur Folge hatte.
Man entrinnt dem Leiden, das man in einem bösen Traum erleben mag, nicht dadurch, daß man in ein anderes Bett geht, sondern einfach dadurch, daß man aufwacht. Ebensowenig kann eine Veränderung des Orts oder der Umstände oder auch des leiblichen Körpers die Schwierigkeiten des wachen Traums des sterblichen Daseins lösen. Aber oft zwingen Schwierigkeiten uns gerade durch ihre Heftigkeit, den sterblichen Traum aufzugeben, so daß wir uns wie Jakob vom sterblichen Selbst abwenden und erklären und uns vergegenwärigen, daß die göttliche Liebe jetzt zugänglich ist — daß sie jetzt einzig und allein hier und alles ist. Wenn das Denken zu dieser herrlichen Wahrheit erwacht, macht man die bedeutsame Entdeckung, daß man das Himmelreich nicht an einem fernen Ort oder unter anderen Menschen zu suchen braucht; „denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ Dann kann tatsächlich der „Stein des Orts“, an dem wir uns heute befinden, zu einem Altar werden, auf dem wir jede Annahme von einem guten oder bösen menschlichen Selbst zu opfern bereit sind, und wir rufen aus: „Gewiß ist der Herr an diesem Ort, und ich weiß es“!