Keine andre Klasse von Menschen ist wohl mehr von Haß und Neid verfolgt worden als die Klasse der Reichen — die Leute, die im materiellen Sinn reich genannt werden. Vor einiger Zeit sprachen zwei Freundinnen über diesen Gegenstand, und die eine meinte: „Ich bin noch nicht imstande gewesen, die Geldfrage für mich zu lösen.” Und nach einer Weile setzte sie unwillig hinzu: „Ich kann es nicht für richtig finden, daß einige Menschen sich aus der Armut herauszuarbeiten haben und andre nicht. Ein jeder kann krank werden, aber darin, daß der eine reich und der andre arm ist, kann ich keine Gerechtigkeit sehen.”
Die Freundin erwiderte: „Du hast eben die Aufgabe des Reichen noch nicht erkannt. Der Reiche hat ein ebenso großes Problem vor sich wie der Arme; ja, vom persönlichen Standpunkt aus ist die Lebensfrage, die er zu lösen hat, schwieriger als die deine. Du hast ganz einfach einzusehen, daß die göttliche Liebe dir alles gibt, was du nötig hast, während der Reiche sich zuerst klar machen muß, daß alle seine materiellen Besitztümer nichts sind. Dann erst kann er anfangen, das göttliche Gemüt als die Quelle aller Lebensbedürfnisse zu erkennen. Außerdem wird ihm sein Reichtum meistens die Aufgabe stellen, andern Leuten Arbeit zu geben, was eine große Verantwortung bedeutet und gewiß nicht leicht ist. Die Aufgaben des Reichen und des Armen sind in gewissem Sinne den Ansprüchen von Krankheit und Sünde ähnlich. Einem Sünder scheint seine Sünde Genuß zu bereiten, indes jeder weiß, daß ein Kranker nur Schmerz und Unbehagen empfindet. Der Kranke hat also nichts weiter zu tun, als sich an die Wahrheit zu wenden und sich klar zu machen, daß Gesundheit ein stets erreichbares Besitztum aller ist, während der Sünder erst den Glauben an den Genuß loswerden muß, der ihm anscheinend durch die Sünde zuteil wird, ehe er von der Sünde geheilt werden kann.”
Über diese Unterredung mußte Schreiberin dieser Zeilen noch lange nachdenken, und sie nahm sich zwei Bibelstellen, die von dem Problem des Reichen handeln, zum gründlicheren Studium vor. Die erste Stelle steht im zehnten Kapitel des Markus-Evangeliums. Vieles ist über den reichen Jüngling geschrieben worden, der inmitten seiner Reichtümer sich unbewußt nach unvergänglichen Gütern, nach dem ewigen Leben sehnte. Wer diese Geschichte aufmerksam liest, wird besonders auf die erste Bedingung achten, die der Meister dem Jüngling stellte, nämlich, daß er die materielle Auffassung des Besitzes loswerden müsse.
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