Geistige Erkenntnis besitzen heißt, mit dem in Berührung sein, was rein mental und deshalb geistig, ewig und vollständig ist. Das schöpferische Gemüt kommt in seinen Ideen zum Ausdruck (die alle in sich vollendet sind), und schließt Vollendung, Vollständigkeit, Harmonie und Einheit in sich, „Gott und Seine Schöpfung,” die da ist „harmonisch und ewig” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 472). Dies in gewissem Grade erkennen heißt Verständnis besitzen, denn wenn das Gemüt, d. h. der Schöpfer, Geist ist, müssen alle vom Gemüt stammenden Ideen geistig sein; folglich ist geistige Erkenntnis die einzig wahre Erkenntnis.
Viele von denen, die mit dem Studium der Christlichen Wissenschaft begonnen haben, möchten sofort alles besitzen, was ihnen gut erscheint, ohne weiter über den geistigen Wert dieser Dinge nachzudenken. Wenn sie dann einen noch so schwachen Schimmer von der großen Wahrheit, welche diese Lehre vertritt, erblickt haben, sehen sie ein, daß es etwas zu erstreben gibt, was alle ihre Erwartung übertrifft, nämlich geistige Erkenntnis.
Haben sie die Notwendigkeit eingesehen, diese Erkenntnis zu erlangen, so gehen sie mehr oder weniger ernsthaft ans Werk, sie sich anzueignen. Der Wunsch, sie zu besitzen, ist sicherlich ein Schritt vorwärts, doch darf man die Ermahnung nicht vergessen: „Denn so ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.” Bei vielen dauert es lange, bis sie die Bedeutung dieser Worte erfaßt haben. Manche sagen: „Geistige Erkenntnis ist mir das Wünschenswerteste, denn ich weiß, daß es außer ihr nichts gibt, was sich der Mühe lohnt;” aber trotzdem sind sie nicht bereit, „am ersten nach dem Reich Gottes” zu trachten. Da sie das Glück immer noch in materiellen Dingen suchen, tun sie am ersten ihre Arbeit in dieser Richtung, und wenn dann noch Zeit übrig bleibt, machen sie sich ans Studium oder Lesen des Wortes, durch welches allein diese Erkenntnis kommen kann. Nach einer Weile fangen sie an, sich zu wundern, warum ihren Bedürfnissen nicht schneller abgeholfen wird, und manchmal dauert es so lange, bis sie, des Wartens auf Segnungen müde, der materiellen Vergnügen überdrüssig und voll Enttäuschung über ihr fruchtloses Suchen nach Glück verzweifelt ausrufen: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.”
Wenn die Menschen ihren „Herrn” in weltlichen Vergnügen zu finden glauben, wenn sie ihre Gedanken umherschweifen lassen, anstatt sie auf „unverwelkliche” Dinge zu richten, werden sie in der Tat durch viel Trübsal lernen müssen, daß Christus, die Wahrheit, nicht da ist, wo sie ihn suchen; er ist auferstanden, und auferstehen müssen auch sie, wenn sie ihn finden wollen. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 322 von Wissenschaft und Gesundheit: „Unsre Enttäuschungen und unser unaufhörliches Weh treiben uns wie müde Kinder in die Arme der göttlichen Liebe. Dann fangen wir an, das Leben in der göttlichen Wissenschaft zu begreifen. ‚Meinst du, daß du wissest, was Gott weiß‘ ohne diesen Entwöhnungsprozeß?” Auf der nächsten Seite ermahnt sie uns, in unserm Streben nach der Wahrheit „Irrtum jeder Art aufzugeben und kein andres Bewußtsein zu besitzen als das Gute.” Bereitwilligkeit, die Annahme aufzugeben, daß wahre Freude und Freiheit irgendwo anders zu finden seien als im Guten; der ernste Wunsch, den Willen Gottes zu erfüllen und keinen andern anzuerkennen; das sehnliche Verlangen, vor allem in der geistigen Erkenntnis zu wachsen — dies alles bringt uns dahin, wo uns „solches alles zufallen” wird.
„Nimm an Weisheit, nimm an Verstand,” heißt es in den Sprüchen Salomos. Ihr Besitz bringt dauernde Freiheit, Herrschaft und Glückseligkeit. Schon ein geringes Erkennen ihrer Kraft und Macht, ein Erkennen, welches uns veranlaßt, weltliche Dinge aufzugeben, um dieses geistige Verständnis zu erlangen, gibt uns das Verlangen, immer höher zu steigen, empor zu einem volleren und klareren Entfalten der Dinge, welche Gott denen verheißen hat, die Ihn von ganzem Herzen lieben und suchen. Diejenigen, die nur langsam fortschreiten, erinnern sich oft der Felsen, welche ihnen den Weg zu versperren suchten, und wenn sie ihren Mitbruder in derselben Gefahr sehen, benützen sie gerne die ihnen dargebotene Gelegenheit, ihn vor diesen gefährlichen Stellen zu warnen.
Ein Hindernis, welches selbst den ernstesten Schüler der Christlichen Wissenschaft manchmal aufhält, ist die Neigung, die Lehren dieser Wissenschaft mit seinen eignen vorgefaßten Meinungen und Ansichten in Übereinstimmung zu bringen. Ja zuweilen geht er so weit, zu sagen: „Aber das scheint doch gar nicht vernünftig zu sein; es ist nicht konsequent!” Konsequent womit? Mit der Annahme von der Wirklichkeit der Materie, mit ihren Gesetzen und Augenfälligkeiten? Und gerade diese Annahme ist die Inkonsequenz selbst, da der unendliche Schöpfer, Geist, nichts ihm Unähnliches hervorbringen kann. Niemand wird behaupten, daß die Materie eine gottähnliche Eigenschaft besitze; also hat sie Gott nicht geschaffen. Aber wer ist denn ihr Schöpfer, wenn Gott der alleinige Schöpfer ist? Emerson schreibt: „Ein Mensch ist die Fassade eines Tempels, welcher alle Weisheit und alles Gute in sich birgt. Das, was wir gewöhnlich einen Menschen nennen, d. h. der Mensch, der ißt, trinkt, pflanzt und rechnet, der vor uns steht, ist nicht ein wahres, sondern ein falsches Bild von ihm. Dieses falsche Bild respektieren wir nicht, aber vor der Seele, deren Organ es ist, würden wir unsre Knie beugen, wenn der Mensch sie durch seine Handlungen zum Ausdruck brächte.” Die Seele zum Ausdruck bringen heißt in der Tat, Sieger über Täuschungen sein. Aber wir sind so stolz auf unsre menschliche Vernunft! Was nützt uns unser Glaube an dieselbe, wenn wir trotzdem unterliegen?
Das Bewußtsein des immergegenwärtigen Guten, seiner Allheit und Ausschließlichkeit wird demnach durch geistige Erkenntnis erlangt. Wenn der Glaube an die Materialität aus dem Bewußtsein eines Menschen verschwindet, so existiert sie für ihn nicht mehr, und er ist deshalb bereit, fortwährend Gutes in sich aufzunehmen; ja er kennt überhaupt nichts andres. Welch erhebendes Gefühl gewährt es doch, zu wissen, daß jeder Notdurft eines jeden Kindes des Allerhöchsten bereits abgeholfen ist, und daß das Kind einfach zu einem Erkennen dieser Tatsache zu erwachen braucht. Nichts kann Gottes Plan vereiteln; ohne Unterbrechung geht er seiner Erfüllung entgegen. Das, was unser Vater-Mutter Gott von einem jeden von uns verlangt, muß schließlich getan werden. Furcht oder Entmutigung, die durch irgendeinen selbstsüchtigen Gedanken erzeugt werden, haben daher keinen Raum.
Man braucht sich so wenig für einen Sünder zu halten wie für einen kranken Menschen, denn das würde ja ein Vergessen des von Gott zu Seinem Bild geschaffenen Menschen bedeuten. Die Sterblichen machen sich nicht nur eine falsche Vorstellung von der Schöpfung, sondern auch vom Schöpfer selbst, denn das eine kann nicht ohne das andre existieren, ebensowenig wie der Spiegel eine Person wiederspiegeln kann, die nicht davor steht. Wie oft müssen wir doch zu der grundlegenden Tatsache zurückkehren, daß Gott der Schöpfer alles dessen ist, was wirklich existiert, daß es nur die eine, die gute und geistige Schöpfung gibt, denn Gott, der sie hervorbringt, ist Geist. Was das Übel anbelangt, so muß derjenige, der die Wissenschaft des Christentums erfassen und ihren Vorschriften gemäß leben will, stets das Gute als die dauernde Kundwerdung Gottes bekräftigen und die Wirklichkeit des Bösen verneinen, weil das Böse unmöglich ein Teil Seiner Schöpfung sein kann. Eine Lüge hat erst dann Macht, wenn man sie glaubt, und wie oft sie auch wiederholt wird, sie wird nie wahr. Sie entsteht in einem vermeintlich von Gott getrennten Gemüt, nicht in Gott, der die Wahrheit ist. Außer Gott gibt es kein Gemüt, und so zerfällt dieses lose Gewebe in nichts.
Ein großer Denker sagt: „Dadurch, daß ein Mensch das bekräftigt, was ihm gefällt, gibt er noch keinen Beweis seiner Weisheit; wer aber imstande ist, das Wahre als wahr und das Falsche als falsch zu erkennen, bringt das Wesen der Intelligenz zum Ausdruck.” Gott allein hat Dasein, und der Mensch ist nicht eine von ihm getrennte Persönlichkeit, die von jedem Wind hin und her geworfen wird, sondern er ist eins mit Ihm, ist von Seiner Liebe umgeben und beschützt. Man muß daher den Gedanken an das eigne Ich, die Furcht vor dem eignen Ich, und was drum und dran hängt, fahren lassen, denn es ist alles Täuschung, das Erzeugnis des sterblichen Gemüts, und muß am Wahren, am Erzeugnis des unsterblichen Gemüts, das vollkommen und ewig harmonisch ist, festhalten. Nur so können wir Vertrauen haben, das zerbrochene Rohr, auf das wir uns gestützt haben, fallen lassen und Frieden erlangen. Gott beschirmt jedes Kind Seiner Liebe, ob es dies nun weiß und anerkennt oder nicht. Wer es aber einmal klar erfaßt hat, weiß sich in diesem Bewußtsein geborgen, wie das frisch aus dem Ei geschlüpfte Vöglein unter der Mutter Flügel.