Meine Kindlein, laßt uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.” So ermahnt uns der Jünger, den Jesus lieb hatte. Keiner der Evangelisten scheint Jesu Zusammenfassung des Gesetzes und der Propheten, nämlich, daß man Gott über alles lieben soll und seinen Nächsten als sich selbst, so klar verstanden zu haben wie Johannes. Die erhabene Erklärung: „Gott ist Liebe,” sowie die weitere Aussage, daß Er „gesandt [hat] seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden,” führt naturgemäß zu der Forderung: „Hat uns Gott also geliebet, so sollen wir uns auch untereinander lieben.”
Wäre des Apostels Ermahnung in den vergangenen Zeitaltern befolgt worden, so würde sich die heutige Welt nicht solch bedauerlichen Zuständen gegenübersehen. Verbrechen, Not und Elend jeder Art sind das Ergebnis der Unmenschlichkeit des Menschen gegen den Menschen. Sie können nur durch den allgemeinen Gehorsam gegen das Gebot Christi, daß wir einander lieben sollen wie er uns geliebet hat, endgültig überwunden werden. Liebe führt die Lösung eines jeden Problems herbei, sei es völkisch, gemeindlich oder persönlich. Abseits dieser Grundlage gibt es keinen dauernden Frieden, sondern bestenfalls nur zeitweilige Linderung. Wenn Menschen und Völker nur eine Norm des Handelns haben werden, nämlich das Gesetz Gottes, das Gesetz der Liebe, dann wird die allgemeine Brüderschaft der Menschen eine Tatsächlichkeit und nicht eine Theorie sein.
Daß es sich hier nicht um ein unmögliches Ideal handelt, wird täglich in der Christlichen Wissenschaft bewiesen. Diese Lehre stützt sich auf den Satz, daß Gott Liebe ist; sie ist in dem großen Gebot zusammengefaßt, welches Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten fordert. Wenn wir Gott über alles lieben, so ist in unserm Herzen kein Raum für Neid und Haß gegen irgendeinen Menschen; und derartige Regungen veranlassen allen menschlichen Mißklang. Mrs. Eddy überwand diese störenden Elemente durch ihre Treue gegen Gott und ihren Gehorsam gegen Sein Gesetz, weshalb sie in ihrer Botschaft an Die Mutter-Kirche im Jahre 1902 schreiben konnte (S. 2): „Leben und leben lassen, ohne sich wegen Auszeichnung oder Anerkennung vorzudrängen; auf die göttliche Liebe zu harren; die Wahrheit zuerst auf die Tafel des eignen Herzens zu schreiben: das heißt vernünftig und vollkommen leben und stellt mein menschliches Ideal dar.”
Mrs. Eddy sah deutlich, daß das Nichterkennen der unveräußerlichen Rechte des schwächeren Mitbruders Mißklang erzeugt, während eine Kraftäußerung in der rechten Richtung zu seiner Erhebung beitragen mag. Deshalb sagt sie im weiteren (S. 3): „Es folgt nicht, daß Kraft zur Unterdrückung heranreifen muß. Tatsächlich ist das Recht die einzige Kraft, und das einzig wahre Streben besteht darin, Gott zu dienen und dem Menschengeschlecht zu nützen.” Diese Worte legen das große Gebot unsres Meisters in neuer Fassung dar, wie ja überhaupt in allen Schriften unsrer Führerin die Liebe gegen Gott und gegen den Nächsten das Leitmotiv bildet. Der Christliche Wissenschafter muß „leben und leben lassen.” Es ist seine Aufgabe, in jedem Gedanken und jeder Handlung die Liebe zu bekunden, welche von Gott kommt, von dem himmlischen Vater, der seinen Kindern nur Gutes zuerteilt. Das hält mancher für eine hoffnungslose Aufgabe; die Liebe, die ein jeder von uns gegenüber den Mitmenschen in unsrer Umgebung wiederspiegelt, vernichtet scheinbar nur einen winzigen Teil des Elends in der Welt: und doch ist der Erfolg im großen und ganzen sehr bedeutend. Wenn wir fortgesetzt in der rechten Weise arbeiten, werden wir sehen, daß selbst „ein wenig Sauerteig den ganzen Teig versäuert.”
Nichts kann den wahren Christlichen Wissenschafter dieser seiner Aufgabe entbinden, denn er hat sich verpflichtet, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln den vielerlei Kundwerdungen des Bösen entgegenzuwirken. Er darf den Mut nicht sinken lassen, wenn auch seine Liebe zuweilen kurzer Hand abgewiesen wird, noch darf er seine Mängel damit entschuldigen, daß andre angesehene Menschen „ebenso handeln.” Was recht ist, ist unter allen Umständen recht. Des Meisters scharfer Verweis dem Petrus gegenüber, als dieser sich darum bekümmerte, wie Johannes sein Problem ausarbeiten würde, gilt auch den Christen unsrer Tage: „Was gehet es dich an? Folge du mir nach.” Wenn wir Tag für Tag getreulich in des Meisters Fußtapfen wandeln, wenn wir jede Gelegenheit benutzen, unserm Mitbruder Gutes zu tun, dann kommen wir unsrer Verpflichtung nach, denn Jesus sagt: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.” Die Tatsache, daß unser Nächster, wie der zweite Sohn im Gleichnis vom Weinberg, versprochen hat, sich in den Dienst des Vaters zu stellen, und es dann nicht tut, darf unsre Handlungsweise nicht beeinflussen. Er hat das zu verantworten und nicht wir, denn ein jeder muß nur über sein eignes Tun und Lassen Rechnung ablegen. Unsre Sorge sei einfach, am Schluß eines jeden Tages sagen zu können, daß wir etwas zur Hebung der Menschheit beigetragen haben.
Wir können unsre Aufgabe nur dadurch erfüllen, daß wir stets „Lust zum Gesetz des Herrn,” zum Gesetz der Liebe haben. Das tägliche ernste Studium dieses Gesetzes, wie es in der Bibel und in Wissenschaft und Gesundheit dargelegt ist, sowie das beharrliche Bestreben, das Gelernte im Maße unsres Verständnisses in die Tat umzusetzen, wird sowohl uns wie unsre Mitmenschen segnen. „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,” hat, wie uns der Psalmist sagt, keine Angriffe des Bösen zu fürchten, sondern er zieht aus in der Macht der Wahrheit und Liebe, „sieghaft und daß er siegte,” bis die Ränke des Bösen unmöglich geworden sind.
Viele fragen in unsern Tagen: „Was können wir tun, wie können wir helfen?” Es gibt Zeiten in der Geschichte der Völker und Wendepunkte im Leben einzelner Menschen, wo sich nichts weiter tun läßt, als der Stimme zu folgen, die da gebietet: „Seid stille und erkennet, daß Ich Gott bin”— Zeiten, wo man in keiner andern Weise helfen kann, als durch Festhalten an dem Gedanken, daß Gott dennoch im Regimente sitzt. Möge unser Teil an dem Weltwerk auch recht klein sein, so können wir doch wenigstens dem Rat unsrer Führerin solgen: „Laßt Wahrheit und Liebe eure Gemüter in solchem Maße erfüllen, daß Sünde, Krankheit und Tod nicht in dieselben eindringen können” („The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany,“ S. 210). Wir können uns bewußt werden, daß wir auf diese Weise nicht nur unsre eigne Sicherheit bewirken werden, sondern daß auch allen, auf denen unsre Gedanken ruhen, dadurch geholfen wird, wie Mrs. Eddy im weiteren sagt.