Unser keiner lebet ihm selber.” Diese Worte enthalten ein grundlegendes Gesetz, das nicht umgestoßen werden kann. Wer diese Tatsache außer acht läßt und seine Mitmenschen nicht berücksichtigt, wird sicherlich bald an seine hierauf bezügliche persönliche Verantwortlichkeit ermahnt. Im wahren Weltall, welches die Christliche Wissenschaft der Menschheit offenbart, wo Gedanken Dinge sind, wo der Gedanke allein Substanz darstellt, ist eines Menschen mentale Haltung gegenüber seinem Mitbruder von größerer Wichtigkeit als seine Handlungen. Die Folgerung, daß kein Mensch „ihm selber” denkt, d. h. daß sein Denken nicht nur ihn selber beeinflußt, stellt sich als eine Regel dar, die ebenfalls grundlegend ist, obschon sie in der Praxis nicht immer willig anerkannt wird. Der Mensch kann in Gedanken die Rechte eines andern so außer acht lassen, daß seine Denkweise mentaler Anarchie gleichkommt, und zwar ohne daß er entdeckt wird, oder sogar ohne daß er sich seines störenden Einflusses oder seiner Ungerechtigkeit gegen andre bewußt ist. Solange er nicht einsehen lernt, daß jede lieblose Handlung das Ergebnis eines lieblosen Gedankens ist, wird er nicht begreifen, daß diese beiden Gesetze in Wirklichkeit nur eines sind, wird er nicht erkennen, daß eine lieblose Denkweise, obschon sie sich nicht durch eine dementsprechend? Handlung verraten mag, in Wirklichkeit schlimmer ist als eigentliches Übeltun, denn sie lauert ungesehen im Verborgenen und ist somit unangefochten.
Wenn die Erklärung eines modernen Philosophen, daß jede Handlung eines Menschen das unvermeidliche Ergebnis jeder ihr vorausgegangenen Handlung sei, auch nur annähernd wahr ist, so ist es klar, daß diese Handlungen nicht als etwas Alleinstehendes beurteilt werden können. Und trotzdem sind die Menschen dazu gekommen, in so hohem Maße von den rein nebensächlichen und vorübergehenden Erscheinungen in der menschlichen Lebensführung auf die Wirklichkeit zu schließen, daß in vielen Fällen das Urteil betreffs des Charakters und der Beweggründe andrer ganz und gar unzuverlässig, ja zuweilen sehr oberflächlich und grausam ungerecht ist. Die auf Grund solch unrichtiger Voraussetzungen eingenommene Stellung sollte umsomehr vermieden werden, als ihre Wirkung auf andre anscheinend so schädlich ist. Durch die Anwendung der Christlichen Wissenschaft wird dieser Einfluß neutralisiert.
Mrs. Eddy schreibt: „Das sterbliche Dasein ist ein Rätsel. Jeder Tag ist ein Geheimnis” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 70). Die Beziehung der chaotischen Erfahrungen des sterblichen Daseins zu dem Gesetz von Ursache und Wirkung sind scheinbar so unverständlich und verwirrt, und die falschen Begriffe der Vererbung und der Einflüsse vor der Geburt sind so verwickelt, daß die Menschen oft nicht imstande sind, sich ihre eigne Ungleichförmigkeit in Hinsicht auf Temperament und Neigungen zu erklären, oder mit auch nur annähernder Gewißheit zu sagen, welchen Weg sie selbst in einer unverhofften moralischen Krise einschlagen würden. Niemand, der je Gelegenheit gehabt hat, über seine eignen Abweichungen von einem christlichen Lebenswandel unparteiisch zu Gericht zu sitzen, wird sich anmaßen, den Charakter seiner Mitmenschen auf Grund der Scheinbarkeit zu beurteilen. Daher die Wichtigkeit der Lehre des Sprichworts: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu,” und der goldenen Regel. Die natürliche Ableitung: „Denke von deinem Nachbar so, wie du willst, daß er von dir denke,” geht noch weit tiefer, indem diese Regel nicht nur das Ergebnis unsrer Handlungen bemißt, sondern auch den Beweggrund einer jeden Tat — das, was Paulus die „Gedanken und Sinne des Herzens” nennt.
Ein Bergsteiger findet es leicht, sich manchen Umweg, manches Ausgleiten oder manchen Fall zu vergeben, solange er sieht, daß er trotz aller Hindernisse vorwärtskommt und sich dem Ziele nähert. Die Unebenheiten des Weges, das zeitweilige Verschwinden des Gipfels, der Aufenthalt, um das schon Erreichte mit Genugtuung zu betrachten, oder das Vergleichen dieser vollbrachten Arbeit mit der größeren, noch zu bewältigenden Aufgabe — alle Verzögerungen, welche durch solche Ursachen entstehen, haben weiter keine Bedeutung, wenn man sie mit der zu lösenden Aufgabe in das richtige Verhältnis bringt.
Irgendeine im Steigen vorkommende Schwierigkeit hervorzuheben und auf Grund derselben den Bergsteiger zu beurteilen; von einem kaum erreichten Höhepunkt aus den Reisegefährten, der noch weiter zurück ist und mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, zu kritisieren oder zu tadeln; über die uns noch bevorstehenden Anstrengungen zu klagen und die günstige Stellung zu beneiden, die ein andrer Reisegefährte schon erreicht hat und die auch wir mit der gleichen Ausdauer erreichen können — alle Gedanken solcher Art sind eine Verletzung der Regeln guter Kameradschaft und des richtigen Sports. Der richtige Sportgeist bedingt ein gegenseitiges Geben und Nehmen, das Sichteilen in das Auf und Ab des menschlichen Lebens, und zwar ohne Klagen und ohne Prahlen. Richtiger Sport umfaßt ein Sichmessen der Intelligenz mit den Verhältnissen oder mit einem freundschaftlichen Rivalen, und seine Lehren sind uns zum richtigen Leben und Denken und zur Stärkung unsres Glaubens und Mutes von hohem Wert.
An unserm geistigen Ideal festhalten, den Geist unsrer Aufgabe aufrechterhalten, ehrliches Spiel und gute Kameradschaft bewahren, mit Hindernissen und Schwierigkeiten nur wenn absolut notwendig und nie aus Feigheit oder eigner Wahl einen Vergleich eingehen, den Prüfungen, die uns unsre Arbeit bringt, standhalten und vorwärts dringen, ob wir siegen oder verlieren — das sind die Erfordernisse zum Wachstum auf irgendeinem Gebiet. Dies ist der Maßstab, den wir in Augenblicken innerer Umschau und moralischer Säuberung bei uns selber anwenden müssen, und eine aufrichtige Denkweise bedingt, daß wir im Beurteilen unsres Mitbruders keine strengere Norm gebrauchen.
Es ist eine traurige Tatsache, daß die Sterblichen nur zu oft nicht imstande sind, ihren eignen Vorzüglichkeitsbegriff zu erreichen. Aber doppelt traurig ist es, wenn dieses Unvermögen im unbewußten mentalen Einfluß derer seinen Ursprung hat, von welchen man gerechterweise moralische Hilfe und Unterstützung erwarten kann. Wie mancher Mensch hat seine höchsten Hoffnungen im Leben nicht verwirklichen können, nur weil er unter Leuten weilte, welche seine Bestrebungen und Bemühungen herabsetzten, das, was er schon vollbracht hatte, ihren eignen armseligen Errungenschaften gleichstellten, und seinen Blick in die Zukunft auf den engen Gesichtskreis ihres eignen dürftigen Glaubens beschränkten. Aus wie manchem erhabenen Sonnenaufgang der Hoffnung ist durch den dunkeln Schatten zweifelnder Freunde und durch Überlieferungen ein trüber Sonnenuntergang geworden!
Solche Einflüsse brauchen nicht in Worten Ausdruck zu finden, um ihre schädliche Wirkung geltend zu machen. Mrs. Eddy sagt, das „Mißtrauen der sterblichen Gemüter, die nicht an den Zweck seiner [Jesu] Mission glaubten,” sei die Last gewesen, welche seinen treuen Lippen den Klageruf entrangen: „Eli, Eli, lama asabthani?“ (Wissenschaft und Gesundheit, SS. 50 u. 51). Ist es zu bezweifeln, daß unzählige, weniger heldenhafte menschliche Opfer durch freundlicheres Beurteilen und Ermutigen hätten vermindert, ja sogar verhütet werden können?
Niemand beginnt seinen Lebenslauf mit den Fesseln des Mißerfolgs belastet, und es ist undenkbar, daß Menschen absichtlich lernen, gemein, falsch oder grausam zu sein. Diese Eigenschaften sind Erscheinungen, die durch Ungerechtigkeit und Täuschung, durch Mangel an moralischer Nahrung und Anregung, durch Enttäuschung und Groll entstanden sind, Erscheinungen, die in außergewöhnlicher Weise Ausdruck finden und die vielleicht niemanden mehr in Erstaunen versetzen als das arme Opfer selbst. Nichtig betrachtet sind böse Eigenschaften gleichsam die zerrissenen Kleider, der Schmutz und die Beulen eines Bergsteigers, der einen schwierigen und gefährlichen Aufstieg unternimmt. Sie sind weder der Mann, noch ein Teil desselben.
Jesus sagte: „Der Vater richtet niemand.” Ein Vergleich zwischen dem Vollständigen und Unvollständigen, dem Vollkommenen und Unvollkommenen (und ein solcher Vergleich bildet die Grundlage eines Urteils) ist für das Gemüt, welches nur das Vollkommene und Vollständige kennt, ganz und gar undenkbar. Dieses Gemüt spiegelte Jesus wieder, als er sagte: „Ich kann nichts von mir selber tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist recht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen.” Kurz, seine Gedanken erkannten einzig die göttlichen Werte im Leben an und räumten ihrem scheinbaren Gegenteil keine Wirklichkeit ein.
Je höher der Wanderer den Berg hinansteigt, desto ebener und gleichmäßiger erscheint ihm die zu seinen Füßen liegende Landschaft und desto ungefährlicher kommen ihm die Abgründe und Fallgruben seiner früheren Umgebung vor. Je mehr wir uns in unsrer Denkweise jener Mentalität nähern, die das Göttliche wiederspiegelt, desto unbedeutender werden uns die Rauheiten des sterblichen Gemüts erscheinen, desto großmütiger und voller wird unser Denken denen gegenüber sein, die den langen Aufstieg an unsrer Seite machen, desto mehr werden wir die Pionierarbeit derer, die uns vorangegangen sind, zu schätzen wissen.
Die Erfordernisse wahrer Neutralität gelten für alle Zeit, aber dringender als jetzt, wo die feurigen Schlünde des sterblichen Gemüts sich vor unsern Augen zu entleeren scheinen, waren sie wohl noch nie. Heute tut es vor allem not, daß sich die Menschen und Nationen besser kennen lernen, daß sie über den vergänglichen Schein der Dinge hinaussehen und so das gesunde, gottregierte Herz der Menschheit erblicken. Wer den schrecklichen Weltkrieg als „Notwendigkeit” betrachtet, als das vorbedachte Ziel eines Volkes, als die Aufdeckung des verborgenen Ideals einer Nation, oder wer die Ursache des Krieges etwas anderm zuschreibt als einem kolossalen Mißverständnis und einer verkehrten Deutung der Absichten eines mutmaßlichen Rivalen, geht der Sache gewiß nicht auf den Grund.
Die Ursache dieses Krieges ist, wenn auch in tausendfach verkleinertem Maßstab, die Ursache eines jeden unwürdigen Verdachts gegenüber den Absichten andrer, einer jeden feindseligen Anklage, eines jeden unbedachten Vorwurfs oder Streites, der die Sucher nach dem allgemeinen Guten auseinander bringt. Diese Elemente der Disharmonie weisen in dem Maße Abweichungen auf, wie sie sich entwickeln. Ob groß oder klein, sie haben alle ihre Ursache in einer lieblosen, unedlen Denkweise; für alle besteht das Heilmittel darin, daß die Menschen „nicht nach dem Ansehen, sondern ... ein recht Gericht” richten, wie der Erlöser der Menschheit lehrte.
Unsern Nächsten besser kennen heißt, ihn im Geist von dem trennen, was er unbedachterweise oder in Augenblicken des moralischen Unvorbereitetseins oder aus Mangel an moralischem Mut getan haben mag, ihm vergeben und nur das beachten, was er aus Überzeugung und aus tiefinnerem Antrieb vollbringt. Es heißt ferner, daß wir nicht seine Narben und Quetschungen vergrößern sollen, wohl aber die Bemühungen, durch welche diese Wunden entstanden sind; daß wir nur die göttlichen Werte, die in seinen Hoffnungen und Gebeten weiter leben, in Betracht ziehen; daß wir seinen Glauben und seinen Mut nähren, indem wir so edel von ihm denken wie von uns selber — kurz, unsern Nächsten besser kennen, heißt, nur so von ihm zu denken wie wir wollen, daß er von uns denken solle.
Auf Seite 476 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.”
