Wie in alter Zeit, so werden die Menschen auch heutzutage über die scheinbar unnötig lange Verzögerung in der Herstellung von Gerechtigkeit auf Erden ungeduldig. Zur Berichtigung dieser Ungeduld sagte Petrus: „Der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten; sondern er hat Geduld mit uns und will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß sich jedermann zur Buße kehre.” Die Verzögerung ist demnach auf die Abgeneigtheit seitens der Sterblichen, das göttliche Vorhaben einzusehen oder dem göttlichen Willen zu gehorchen, zurückzuführen.
Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist wachsames Harren zu jeder Zeit empfehlenswert, denn es führt uns sicherlich auf die „grüne Aue” des Friedens, ans „frische Wasser” der Tugend und Zufriedenheit. Wachsames Harren ist die Haltung des wahren Christen, denn es läßt ihm Zeit zum Beten und Fasten. Der Eigenwille entscheidet hastig, stürzt sich kopfüber in den Strudel menschlicher Leidenschaften und Begierden, und bereut, wenn es zu spät ist, sein fruchtloses Vorgehen. „Eile mit Weile” ist ein Sprichwort, das ein gut Stück Wahrheit enthält, und der Schüler der Christlichen Wissenschaft ist sich dieser Tatsache wohl bewußt. Wenn er gelernt hat, den richtigen Weg zu gehen und zu sagen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe,” gibt aber dann durch hastiges Vorgehen dem menschlichen Willen Gelegenheit, sich geltend zu machen, so wird er Zeuge der Verheerung sein müssen, welche seine falsch angewandte Kraft angerichtet hat. Durch die Erfahrung klug geworden, nimmt er dann einen neuen Anlauf, mit dem festen Entschluß, in Zukunft wachsamer zu sein.
Wachsamkeit und Harren gehen Hand in Hand. Wenn man die Wachsamkeit vernachlässigt, gibt man das Harren auf die innere Stimme auf, die da sagt: „Dies ist der Weg; denselbigen gehet.” Menschliche Weisheit nimmt oft eine der göttlichen Weisheit entgegengesetzte Richtung und führt Schwierigkeiten herbei, anstatt sie zu beseitigen. Obschon menschliche Weisheit manchmal wachsam zu sein scheint, so ist sie es doch nur in materieller Hinsicht. Wir beobachten unsre Mitmenschen oft nur, um uns in ihre Angelegenheiten zu mischen. Wenn wir uns um unsre eignen Dinge kümmern, so heißt das, wahre Wachsamkeit an den Tag legen.
Des Meisters Befehl an seine Nachfolger, allezeit zu wachen, will heißen, daß sie ihr Denken auf eine wissenschaftliche Grundlage bringen sollen. Haben sie doch ein Prinzip, dessen Regeln ihnen als Richtschnur dienen. Jesus ermahnt uns, mehr vor der eignen Denkweise über unsern Nächsten auf der Hut zu sein, als uns ob dem, was er über uns denken mag, beunruhigen zu lassen. Die „eignen Hausgenossen” unsres Bewußtseins sind allein unsre Feinde. Solange ein von außen kommender Feind keinen ihm verwandten Gedanken findet, an den er sich wenden kann, verfehlt er sein Ziel ganz und gar. Wenn das eigne Bewußtsein keinen heimtückischen Gedanken enthält, dann hat ein heimtückischer Gedanke von außen nichts, das ihm als Zielscheibe dienen könnte.
Der wahre Christliche Wissenschafter bekundet zu jeder Zeit ein wachsames Harren. Auf Seite 254 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt unsre verehrte Führerin: „Wenn wir geduldig auf Gott harren und die Wahrheit in rechtschaffener Weise suchen, dann lenkt Er unsern Pfad.” Der Versucher ist stets bereit, uns Eile und Weltklugheit einzuflüstern. Wie viele unglückliche und unnötige Vorkommnisse hätten durch nüchterne Überlegung, bei der gewöhnlich die Eingebungen der Weisheit Gehör finden, ungeschehen bleiben können! Dies bewahrheitet sich besonders in Fällen, wo der auf Unkenntnis gegründete Eifer sich spornstreichs an die Lösung menschlicher Probleme machen möchte, oder wo die Unwissenheit eine Kenntnis von der Wahrheit vorgibt und sich anmaßt, an Gottes Statt handeln zu können. Es gibt Probleme, sowohl innerhalb als außerhalb des Heims, wo der Unbeteiligte den Irrtum klar erkennt, wo aber ein geduldiges Warten nötig ist, um eine Versöhnung herbeizuführen. In solchen Fällen kann der ausübende Vertreter oder Lehrer der Christlichen Wissenschaft nichts andres tun, als den Weg anzudeuten. Ein jeder muß seine eigne Arbeit verrichten. Solange wir nicht gewillt sind, verdienten Tadel anzuhören und unsre eigne Arbeit zu tun, wird uns kein Vermittlerdienst bei der Lösung unsrer Probleme helfen können. Da, wo an Stelle des wachsamen Harrens Ungeduld, Eigenwille und persönliche Kritik das Szepter führen, nimmt der Irrtum stets größere Dimensionen an.
„Seid stille und erkennt, daß ich Gott bin.” In diesen Worten liegt die Lösung aller menschlichen Probleme. Das Befolgen dieses Gebotes würde eine göttliche Denkweise seitens der ganzen Menschheit zur Folge haben. Wie eigensinnig, impulsiv und selbstsüchtig ist doch das sterbliche oder materielle Denken! Wenn man die große geistige Tatsache, daß der „Ich bin” Gott ist, erkennen und in sein Bewußtsein aufnehmen will, muß man diese Art des Denkens aufgeben. Wer den Forderungen der sogenannten physischen Sinne nachkommen wollte, würde dadurch sowohl die Macht und Gegenwart Gottes leugnen, als auch unser wahres Sein als des Bösen fähig und materiell hinstellen. Ein solcher Zustand wäre der Gipfel der Verwirrung.
Des Dichters Traum von einer „Hütte in endloser Wildnis” war ohne Zweifel ein Sehnen nach ewiger Stille; aber eine solche Hütte außerhalb des Bereichs der menschlichen Stimme würde ohne die von Christus gelehrte Denkweise nicht die Ruhe der Seele bieten. Solange wir nicht gelernt haben, die Forderungen der persönlichen Sinne, d. h. die Annahme, daß es eine von Gott getrennte Existenz gebe, zum Schweigen zu bringen, können wir nie „stille” sein, weder im Geist noch im Körper; und solange die Annahme besteht, daß der Mensch gleichzeitig geistig und materiell sei, wird Gott nie als der große „Ich bin” erkannt werden. Das Böse wird im menschlichen Bewußtsein den Platz des Guten einnehmen; es wird greifbar und wirklich erscheinen, währenddem das Gute als nicht greifbar und unwirklich angesehen werden wird.
Wachsames Harren heißt, auf Gott vertrauen, nicht, die Zeit abwarten. Daß die Zeit das Problem des menschlichen Daseins lösen wird, ist eine irrige Annahme. Der Schüler der Christlichen Wissenschaft weiß, daß „Zeit ... kein Teil der Ewigkeit” ist (Wissenschaft und Gesundheit, S. 468), und daß, wer sich für die Lösung irgendeines Problems auf die Zeit verläßt, sicherlich Enttäuschung erfahren wird. „Jetzt ist die angenehme Zeit” zu arbeiten — zu wissen, daß das Gute existiert und das Böse nicht, es sei denn scheinbar in einem verworrenen sterblichen Bewußtsein. Die höchste, die alleinige Kraft des Weltalls wirkt ununterbrochen und eröffnet allen, die ihr falsches Ich ablegen und die Allheit Gottes, des Guten, verständnisvoll anerkennen, die ewige und unveränderliche Vollkommenheit und Fortdauer des Seins. Solange ein falsches Selbst nicht zum Schweigen gebracht ist, kann man an Gott glauben, ohne ein beweisbares Verständnis von Seiner Allmacht und Allgegenwart zu haben. Wenn das geistige Verständnis au die Stelle des blinden Glaubens getreten ist, wird auch das falsche Selbst vernichtet sein, und das göttliche Gemüt wird in allen menschlichen Angelegenheiten das Vorrecht haben.
Wie praktisch das alles ist! Es wendet sich jemand an die Christliche Wissenschaft, um von einer Krankheit geheilt zu werden. Wollte nun der ausübende Vertreter das Zeugnis der materiellen Sinne anerkennen, so müßte er zugeben, daß es einen um Hilfe suchenden kranken Menschen gebe, vielleicht sogar, daß der Fall hoffnungslos sei und daß weitere Versuche, den Patienten zu heilen, keinen Zweck hätten. Als Christlicher Wissenschafter jedoch wird er weder mit dem Zeugnis der Sinne, noch mit der Aussage einer irrigen Lehre übereinstimmen. In erster Linie wird er sich vergegenwärtigen, daß nicht ein kranker Mensch oder eines kranken Menschen Annahme der Hilfe bedarf, sondern daß die falsche Vorstellung, als ob der Mensch krank sei oder krank sein könne, vernichtet werden muß. Wenn er erkannt hat, daß der einzig wahre Mensch Gottes Mensch ist, und wenn er die Sinnen-Suggestion von Krankheit als etwas nicht zum Menschen Gehörendes sieht, als einen illusorischen Begriff seitens des sogenannten fleischlichen Gemüts, das „eine Feindschaft Wider Gott” und „dem Gesetze Gottes nicht Untertan” ist, so wird die äußerliche Scheinbarkeit von Krankheit bald verschwinden, und der sogenannte Patient wird durch die Erneuerung seines Sinnes umgewandelt werden. Das will heißen, daß der ausübende Vertreter der Christlichen Wissenschaft einfach so gedacht hat, wie es von Gott verlangt wird; daß er gelernt hat, den Befehl: „Seid stille und erkennet, daß ich Gott bin,” zu befolgen; daß er durch wachsames Harren auf die göttliche Liebe die göttliche Kraft, Krankheit zu heilen, anschaulich bewiesen hat. Genau in der gleichen Weise wird er bei der Lösung irgendeines andern menschlichen Problems verfahren. Er wird den materiellen Sinn zum Schweigen bringen und des Menschen ewiges Einssein mit Gott, d. h. die Wahrheit des Seins, durch einen verbesserten Körper- und Geisteszustand zum Ausdruck kommen lassen.
Wenn alle Völker der Erde des wachsamen Harrens, wie es in der Christlichen Wissenschaft ausgelegt wird, sich befleißigen würden, so gäbe es keinen Krieg mehr, Krankheit würde wie ein Traum schwinden, und Sünde wäre bald ein Ding der Vergangenheit.