Jesus sagte: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Gebärden; man wird auch nicht sagen: Siehe, hie! oder: da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.” Auf einer Reife, weit weg von zu Hause, wurde mir die Wahrheit dieser Worte mit besonderm Nachdruck zum Verständnis gebracht. Freunde von uns hatten uns auf die wunderbare Aussicht, die man vom Gipfel eines naheliegenden Berges genießt, aufmerksam gemacht, und es war uns daher sehr daran gelegen, den Aufstieg zu unternehmen.
Als wir zu diesem Zweck am Morgen die Stadt verließen, war alles in Nebel gehüllt; aber wir wußten, daß sich der Nebel in jener Gegend gewöhnlich gegen zehn Uhr hebt, und so machten wir uns nichts daraus. Je weiter wir jedoch gingen, desto trüber wurde es, und als das Steigen angefangen hatte, kam noch ein feiner Regen dazu. Auf unsre Frage hin erfuhren wir, daß, wenn sich der Nebel in dieser Jahreszeit nicht zur gewöhnlichen Stunde verziehe, es den ganzen Tag hindurch nicht hell werde; und als es immer schlimmer wurde, so daß wir zuletzt nur noch die naheliegenden Gegenstände unterscheiden konnten, schien gar keine Hoffnung vorhanden zu sein, daß wir vom Gipfel aus die geringste Aussicht haben würden.
Es war in der Tat eine große Enttäuschung. Anstatt mir nun die Sache aus dem Sinn zu schlagen, fing ich an, darüber nachzugrübeln. Ich sagte mir, der Fall sei umso schlimmer, als es unsre einzige Gelegenheit sei, denn am folgenden Morgen hatten wir unsre Rückreise anzutreten. Ich dachte an die geopferte Zeit, die gemachten Anstrengungen und das Geld, das wir ausgegeben hatten, um überhaupt dort zu sein. Ferner erinnerte ich mich des vorhergehenden prächtigen Tages und wie ich schon dann den Ausflug hatte machen wollen, jedoch durch einen geringfügigen Umstand davon abgehalten worden war. Auf diese Weise arbeitete ich mich in einen äußerst unharmonischen Gemütszustand hinein. Mein einziger Wunsch war, daß sich der Nebel heben möchte, und ich konnte mich mit dem Gedanken an eine Enttäuschung nicht versöhnen.
Die Art des mentalen Bauens, welche durch diese Erfahrung veranschaulicht wird, kennen wir alle. Wir nehmen den falschen Gedanken als Grundlage und errichten darauf ein Gebäude, das uns zuletzt ganz überschattet. Wenn wir die Wahrheit klarer erkennen würden, so würden wir einsehen, daß alle unsre Schwierigkeiten — Sünde, Krankheit und jede Form des Irrtums — eigentlich in dieser Weise herbeigeführt werden. Wir lassen gewöhnlich erst dann von diesem törichten Bauen, wenn wir nicht mehr weiter können, oder bis ein Strahl der Wahrheit uns veranlaßt, unsern Bau niederzureißen. Als ich an jenem Tag meinen Fehler endlich einsah, kamen mir die wahren Gedanken so klar und deutlich, daß es schien, als ob sie gesprochen würden. Erst entstand die Frage: Hängt deine wahre Glückseligkeit davon ab, ob du die Umgegend zu sehen bekommst oder nicht? Nein, antwortete ich, nicht im geringsten. Ich sah ein, daß ich die Aussicht in einem solchen Gemütszustand nicht in vollem Maße genießen könnte, denn an und für sich hatte sie ja keine Macht, glücklich oder unglücklich zu machen, und bestenfalls ist ein solches Vergnügen nur vorübergehend.
Dann kam die zweite Frage: Wird dein wahres Glück in irgendeiner Weise beeinträchtigt, wenn du fortfährst, diese widerwärtigen Gedanken zu hegen? Ja, sagte ich, ganz entschieden, denn wenn diese Gedanken zerstört sind, werde ich glücklich sein, ob ich die Aussicht gehabt habe oder nicht. Dann dachte ich an Mrs. Eddys Worte: „Gib acht, daß sich in deiner mentalen Atmosphäre keine Wolken der Sünde ansammeln und als Nebel oder Regengüsse herabkommen” („Miscellaneous Writings,“ S. 355). Ich sah, daß es die inneren Nebel waren, die mich die Wahrheit nicht erkennen ließen und die vertrieben werden mußten, nicht diejenigen, die auf dem Berge die Aussicht verhinderten.
Die Wahrheit hatte nun den Zauber meines falschen Denkens gebrochen, so daß mir weiter nichts daran lag, ob ich die materielle Aussicht haben würde oder nicht. Mein Herz wurde erfüllt von einem Sehnen nach der Erkenntnis der göttlichen Gegenwart und der von ihr unzertrennlichen Harmonie, Freude und Glückseligkeit. Mein Gebet ging so schnell und so vollständig in Erfüllung, daß ich beinahe überrascht war: im Augenblick war ich glücklich und zufrieden. Äußerlich hatte sich nichts verändert, aber ich suchte den Frieden in einer andern Richtung. Das „siehe, hie! oder: da ist es” galt mir nichts mehr, denn ich hatte den Beweis, daß „das Reich Gottes ist inwendig in euch.”
Ich war höchst erstaunt, als ich merkte, daß wir höher als die Wolken gestiegen waren und uns plötzlich im hellen Sonnenschein befanden; aber zu sehen war noch nichts, denn der Nebel und die Wolken lagen unter uns wie ein fester Fußboden. Plötzlich rief jedoch unser Führer: „Schauen Sie schnell, dort auf der rechten Seite sieht man hindurch!” Wirklich hatte sich an einer Stelle der Nebel ein wenig zerteilt, so daß wir ein kleines Stück des Panoramas zu Gesicht bekamen. Bald erreichten wir den Gipfel, und zu unsrer Freude gewahrten wir, daß aller Nebel verschwunden war, ausgenommen auf dein Ozean, und vor uns lagen nun in all ihrer Schönheit die Bucht, der Hafen, die Städte und die in der Ferne leuchtenden Berge.
Wäre mir dieses Bild in dem Moment vor Augen getreten, wo ich es so sehr zu sehen wünschte, hätte ich wohl eine Art Freude empfunden, aber es wäre eine dem Wechsel materieller Umstände und menschlichen Denkens unterworfene Freude gewesen. In meinem vorherigen Gedankenzustand hätte ich wohl wenig Befriedigendes empfunden, auf jeden Fall nichts Erhebendes und Dauerndes. Da aber der Genuß dieser Aussicht erst kam, als die inneren Nebel falschen Denkens vertrieben waren, erschien mir das Ganze als eine erhabene Widerspiegelung der Schönheit und Freude, die einem nicht genommen werden kann.
Dieses kleine Erlebnis zeigt in einfacher Weise, daß die materiellen Dinge, die wir so sehr wünschen oder die uns so sehr notwendig erscheinen, an und für sich keinen wahren Wert haben, und daß sie unsrer wahren Notdurft nie abzuhelfen vermögen, denn diese ist stets geistig. Deshalb müssen wir unser sehnliches Wünschen aufgeben, ja manchmal sogar den Gegenstand unsres Wunsches scheinbar fahren lassen, bis unsrer wahren Notdurft abgeholfen ist. Wenn dann das Reich Gottes in unserm Bewußtsein errichtet ist, kommt das gewünschte Gute nicht als etwas, wonach wir gestrebt haben, sondern als eins der Dinge, die uns „zufallen” sollen — als eine äußerliche Offenbarwerdung der innerlichen Herrlichkeit. Nur so bringt uns das Himmelreich das volle Maß des Guten.
Drei Dinge bedarf der Mensch in den Stürmen des Lebens: Mut im Unglück, Demut im Glück, und Edelmut zu allen Zeiten.—Sprichwort.