Mehr als durch alle andern Aussprüche des Meisters sind wohl die Menschen durch die Reihe von Wortbildern im 24. und 25. Kapitel des Matthäus, die vom Kommen des Menschensohns handeln, zum Nachdenken veranlaßt worden. Der große Lehrer wußte, daß er bald von seinen Jüngern getrennt werden würde. Ferner erkannte er, wie unvollkommen sie die hochwichtige Frage des gegensätzlichen Wesens von Geist und Materie erfaßt hatten, das ihnen zu erklären er unermüdlich bestrebt gewesen war. Daher wandte er sich mit einem kühnen Aufschwung prophetischer Beredsamkeit an sie, indem er den ganzen Horizont materieller Vorstellungen beleuchtete und dadurch den Glauben, als gebe es ein sterbliches Dasein, in seiner ganzen Abscheulichkeit bloßstellte.
Jesus war durch die Bemerkungen seiner Jünger über die äußere Pracht des Tempelgebäudes zu seiner Rede veranlaßt worden. Zuerst öffnete er ihnen die Augen für das schreckliche Unheil, welches über das „Israel nach dem Fleisch” wegen der Blindheit seiner Führer in Bälde hereinbrechen würde. Dann ging er zu einer umfassenderen Darlegung des Gegenstandes über, indem er in der bilderreichen Sprache des Morgenlandes großartige Ereignisse beschrieb, die im menschlichen Bewußtsein beim abermaligen Erscheinen des Christus stattfinden würden. Diesen Christus erklärt Mrs. Eddy als „die göttliche Offenbarwerdung Gottes, die zum Fleisch kommt, um den fleischgewordenen Irrtum zu zerstören” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 583). Wir können uns das Staunen seiner Zuhörer vorstellen, als er, den sie durch ihren Umgang mit ihm als „Friedefürsten” kennen gelernt hatten, das Kommen des Christus mit Störungen und Unheil schlimmster Art verband. Welch ursächlicher Zusammenhang konnte zwischen Ereignissen bestehen, die ihrem Charakter nach in völligem Gegensatz zueinander standen?
Als die Jünger den Meister über das Zeichen seines Kommens und „des Endes der Welt” fragten, sagte dieser in einer Reihe von belehrenden Gleichnissen das Vergehen aller Materie voraus. Während von den beiden andern griechischen Wörtern, die im Neuen Testament mit „Welt” übersetzt sind, das eine die physische Erde und das andre die Ordnung des Weltalls bedeutet, drückt das im vorliegenden Fall gebrauchte Wort, wie aus seiner Abstammung hervorgeht, eine Dauer aus und ist bisweilen mit „Zeitalter” wiedergegeben. Vom Standpunkt der gewöhnlichen theologischen Auslegung aus ist der Sinn dieser Gleichnisse mehr oder weniger unklar und mystisch. Die Christliche Wissenschaft jedoch bietet die Erklärung für die Stellung unsres Meisters zu dieser Frage, und zwar durch die überraschende Darlegung, daß die aus Materie bestehende Welt, die den physischen Sinnen so ganz und gar wirklich erscheint, ein verkehrtes Bild von der Schöpfung Gottes ist, eine vermeintliche Ordnung, die vom Mesmerismus oder körperlichen Sinn erzeugt wird und daher weder Prinzip noch Dauer hat. In diesem Schauspiel der Unwirklichkeit gilt der materielle Begriff von Ruhe für wahren Frieden (während doch wahrer Friede ein geistiger Zustand ist), und zwar bis der körperliche Sinn, von der Wahrheit zur Grenze der Selbsttäuschung getrieben, durch die Mehrung friedenstörender Vorstellungen eine Rückwirkung erfährt.
Metaphysisch verstanden bedeutet „das Ende der Welt” das Vergehen dieser irrigen Vorstellung vom Sein samt allen materiellen Bedingungen und Zuständen, die sich aus ihr ergeben. Aber selbst die Urchristen vermochten sich nur langsam von der Anschauung frei zu machen, daß der menschliche Jesus irgendwie und irgendeinmal zur Erde zurückkehren werde. Sie bedachten nicht, daß der große Demonstrator geistigen Seins nach und nach dem Irdischen entschwand, und zwar in dem Maße wie er durch das Schwinden seiner sterblichen Vorstellung von Körperlichkeit dem materiellen Bewußtsein entrückt wurde. Dem biblischen Bericht zufolge wurde er mehrmals von einigen seiner erleuchteten Jünger gesehen, als die Welt seine Gegenwart nicht mehr wahrnahm; und später, unter außergewöhnlichen Umständen, waren es Paulus und Johannes, die in Augenblicken besonderer geistiger Erhebung sein wahres Wesen erkannten.
Der Verfasser des Ebräerbriefes erklärt das zweite Kommen des Christus mit den bedeutsamen Worten: „Zum andernmal wird er ohne Sünde [hamartia, Irrtum, die Vorstellungen, die das Fleisch bilden] erscheinen denen, die auf ihn warten [auf den auferstandenen Christus, wie er dem geistigen Sinn offenbart wird] zur Seligkeit.” Also nicht Jesus, der galiläische Prophet, sondern der unsichtbare, unpersönliche Christus, den er zum Ausdruck brachte, sollte dem menschlichen Bewußtsein wiedererscheinen—dem für geistige Dinge empfänglichen Gemüt als der Tröster, dem körperlichen Sinn als der Bote der Vernichtung.
Wie der Wegweiser die Vorstellungen des Fleisches Schritt für Schritt durch Demonstration überwand und schließlich den irdischen Traum hinter sich ließ, so muß jeder Sterbliche „die Unsterblichkeit anziehen,” er muß sich der Körperlichkeit entledigen und den Geist wiederspiegeln, denn in dieser Wiederspiegelung besteht das Wesen des Menschen. Die Vorstellung von Leben, die durch Sinnesempfindung entsteht und sich auf dieser Grundlage weiterentwickelt, macht den Menschen blind für den Christus, den idealen Menschen. Die dem „Willen des Fleisches” Entsprungenen und im Reich der Sinnenempfindung Lebenden folgen den anerzogenen Vorstellungen der sinnlichen Existenz bis zu ihrem Höhepunkt, nämlich dem Tod. Daher sagt der Apostel Johannes: „Denn alles, was in der Welt ist, des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Wesen, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt. Und die Welt vergehet mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibet in Ewigkeit.”
Der sterbliche Mensch steht dermaßen unter dem Einfluß von Unwissenheit und Trägheit, daß er sich der Notwendigkeit nicht bewußt wird, den Mesmerismus der Sinne zu überwinden, bis seine Lage unerträglich wird. Es bedarf bisweilen eines gewaltigen Stoßes, um den Träumer aufzurütteln. Dann ruft er wohl in Heller Verzweiflung aus: „Was soll ich tun, daß ich selig werde?” In vielen Fällen ist ein tragisches Ereignis innerhalb des Sinnentraumes die Art, wie das Wesen der materiellen Illusionen jäh zutagetritt, worauf sich dann die Sterblichen den geistigen Wirklichkeiten des Seins gegenübersehen. Christus Jesus unterschied klar und deutlich zwischen der Wirklichkeit und dem Traum. Als Reformer, der eine Idee verfolgte, blieb sein Denken dauernd auf das Geistige gerichtet, zu dem das Fleisch im Widerspruch steht. Er faßte seinen Standpunkt in den kurzen Satz zusammen: „Der Geist ist's, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.”
Nie zuvor ist das sterbliche Gemüt so heftig und gründlich aufgerüttelt worden, und noch nie haben sich für das Wort der Wahrheit so erstaunlich schnell und in so unvorhergesehener Weise Pforten nach verschiedenen Richtungen geöffnet, wie in unsern Tagen. Die überlieferte Ordnung der Dinge erleidet gründliche Änderungen, und materielle Berechnungen erweisen sich fortwährend als verfehlt. Gerade der Glaube an materielle Gesetze und materielle Ordnung, der dazu gedient hat, den menschlichen Vorstellungen und Einrichtungen einen gewissen Halt zu verleihen, fängt jetzt an, die ihm unterliegende Gesetzlosigkeit und Ordnungswidrigkeit in unheilvoller Weise zu bekunden. Die angeblichen Kräfte des sterblichen Gemüts überschreiten ihre Grenzen und ihre Selbstbeherrschung und führen durch das Wirken ihres trügerischen Wesens ihre eigne Vernichtung herbei. Das eigentliche Wesen des fleischlichen Gemüts bekundet sich auf teuflische Art durch Haß, Grausamkeit, Verrat und Sinnlichkeit, und zwar um so heftiger, je mehr die Wahrheit latente Arten des Bösen an die Oberfläche bringt und den Irrtum zwingt, Farbe zu bekennen. „Kriege und Geschrei von Kriegen” sind ein Ausdruck der Verwirrung im Reich der sinnlichen Vorstellungen, dadurch hervorgerufen, daß die Menschheit zur Lösung geistiger Fragen gedrängt wird.
Mrs. Eddy sagt: „Der Zusammenbruch der materiellen Annahmen mag Hungersnot und Pestilenz, Not und Elend, Sünde, Krankheit und Tod zu sein scheinen, welche neue Phasen annehmen, bis ihre Nichtsheit zutage tritt. Diese Unruhen werden bis zum Ende des Irrtums fortbestehen, bis alle Disharmonie in geistiger Wahrheit verschlungen sein wird” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 90). In dieser Krise ist der Schüler der Christlichen Wissenschaft, auf dessen Sinnesart der Buchstabe der Christlichen Wissenschaft eingewirkt hat und der einigermaßen in ihren Geist eingedrungen ist, wie die fünf klugen Jungfrauen im Gleichnis auf das Kommen des Bräutigams vorbereitet, während derjenige, der ganz der Sinnentäuschung folgt, sich nicht mehr zurechtfinden kann und den zusammenbrechenden Vorstellungen preisgegeben ist. Wie „zu der Zeit Noahs” kommt die Rückwirkung wie ein Donnerschlag über die unvorbereitete Sinnenwelt, wo der Sinnenrausch, Essen und Trinken, Freien und Sich-freienlassen an der Tagesordnung sind.
Große Möglichkeiten bringen große Verantwortung mit sich. Das wissenschaftlich-christliche Denken, auf welches letzten Endes das Entstehen des Konfliktes zurückzuführen ist, muß aus jeder neuen Entwicklung Vorteil ziehen und das vergeistigende Werk zu seiner Vollendung weiterführen—bis zu dem Punkt, wo alle Materialität verschwindet und die Zeit in der Ewigkeit aufgeht. „Selig ist der Knecht, wenn sein Herr kommt und findet ihn also tun.”
