Das Gebet ist der mentale Vorgang, durch den das menschliche Bewußtsein mit einer höheren Macht in Verbindung zu treten und Hilfe von ihr zu erlangen sucht. Der Hauptbeweggrund zum Gebet ist Verlangen, und die Art dieses Verlangens ist es, die den Charakter des Gebetes und die Antwort auf dasselbe bestimmt. Von großer Wichtigkeit ist daher nicht nur wie wir beten, sondern auch warum wir beten. Welcher Art ist das Verlangen, das uns zu beten veranlaßt? Was für Beweggründe treiben uns an? Um dies feststellen zu können, müssen wir stets wachsam sein, müssen wir beständig unser Herz prüfen und uns bestreben, zwischen geistigen und materiellen Beweggründen zu unterscheiden. So arglistig ist das fleischliche Gemüt, so beharrlich ist es in seinem Bestreben, uns zu täuschen, daß wir, wenn wir nicht wachsam sind, die Entdeckung machen, daß sich die Begierden des fleischlichen Gemüts, die materiellen Triebe in unser Bewußtsein eingeschlichen haben.
Reines, geistiges Verlangen ist somit der Same des wahren Gebetes, der Same, der genährt und gepflegt werden muß, bis er sich entfaltet und in Taten zum Ausdruck kommt. Der junge Schößling muß mit zarter Fürsorge begossen und sorgfältig bewacht werden. Man muß ihn vor den Dornen bewahren, wie Jesus „die Sorgen dieser Welt und den bezüglichen Reichtum und viele andre Lüste” nannte. Hier mag nun jemand fragen: „Wie verhält es sich aber mit unsrer täglichen Notdurft—Nahrung, Kleidung und Obdach—, mit all den Bedürfnissen, die sich so hartnäckig geltend machen. Darf man die in seinem Gebet nicht berücksichtigen?” Diese Dinge sind mit der menschlichen Erfahrung so eng verquickt, daß sie nicht ignoriert werden können, und die Antwort, die uns die Christliche Wissenschaft gibt, ist in jeder Hinsicht befriedigend.
Mrs. Eddy sagt hierüber auf Seite 307 von Miscellaneous Writings: „Gott gibt dir Seine geistigen Ideen, und diese wiederum geben dir deinen täglichen Bedarf.” Dieser Satz mag vielen als eine bloße Abstraktion vorkommen, ist aber nichtsdestoweniger beweisbar wahr und stimmt vollkommen mit Jesu Ausspruch überein: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.” Unser dringendes Bedürfnis ist demnach das Erlangen geistiger Ideen; denn haben wir sie erlangt. so wird unsrer Notdurft sicherlich abgeholfen. Der Hauptbeweggrund alles Betens muß daher das Verlangen sein, immer mehr von den geistigen Ideen zu erlangen, die im wahren Sein inbegriffen sind.
Der sterbliche Sinn neigt so sehr der Materie zu, daß beständige Wachsamkeit notwendig ist. Diese Wachsamkeit ist das „Ja, ja” gegenüber allen Gedanken, die uns Gott näher bringen und vom falschen Ich wegführen, und das „Nein, nein” gegenüber allen Einflüsterungen des Bösen, die uns an die Materialität und Sterblichkeit fesseln möchten. Wachsamkeit wird durch das flammende Schwert versinnbildlicht, das sich nach allen Richtungen wendet und jedes falsche Verlangen verzehrt, das an der Tür des Bewußtseins erscheint. Die beständige Anwendung dieser geistigen Wahrnehmung erspart uns manche schmerzliche Erfahrung. Ist nicht das unaufhörliche Bestreben, das Denken mit der Norm des göttlichen Prinzips in Übereinstimmung zu bringen, die praktische Befolgung der biblischen Ermahnung: „Betet ohne Unterlaß”?
Auf diese Weise werden die von Weisheit und Wachsamkeit beschützten und von Uneigennützigkeit und Liebe genährten Sprößlinge reinen Verlangens an Kraft und Lieblichkeit zunehmen, bis sie durch Worte und Taten der Liebe, der Wahrheitstreue, der Gerechtigkeit, des Gehorsams, der Geduld, der Vergebung zur Blüte gelangen und in Heilung und geistiger Erneuerung Ausdruck finden. Jesu dreijähriges Amt war nichts andres als die Frucht der Gebete seiner Kindheit, die dem heiligen Verlangen entsprangen, stets Gott zu dienen. Mrs. Eddys geistige Auffassung des dem Gebet gewidmeten Lebens des Meisters und ihre Demonstration derselben, die in der Entdeckung der Christlichen Wissenschaft gipfelte, war die voll erblühte Blume des Gebetes, die sich aus dem Samen des göttlichen Verlangens entwickelt hatte.
In welcher Form oder Gestalt unser Verlangen in Erfüllung gehen wird, brauchen wir nicht zu wissen. „Dein Vater, der in das Verborgene siehet, wird dir’s vergelten öffentlich,” sagte der Meister. Warum also unsre Herzenswünsche nicht dem unendlichen Gemüt, der göttlichen Liebe, anvertrauen? Sollten wir uns wegen ihrer Erfüllung nicht auf Gottes unfehlbare Leitung, Seine erhabene Weisheit, Sein stets wirkendes Gesetz der Liebe verlassen? Nichts kann die Wirksamkeit des göttlichen Willens aufhalten oder seine vollkommene Kundwerdung vernichten. Gott kennt alle edlen Wünsche und Ziele. Er modelt sie mit der Hand geistiger Kraft. Er entfaltet sie zur Schönheit und Harmonie. Sind unsre Beweggründe es wert, vom Vater anerkannt zu werden, so können wir sicher sein, daß wir nicht „übel bitten,” ja wir wissen bestimmt, daß unser Gebet zur rechten Zeit Frucht tragen wird.
Ich bin,—und das ist der beste Beweis dafür, daß ich war und sein werde.
