Der einundneunzigste Psalm ist seit Jahrhunderten in Stunden der Not die Zuflucht des Christen gewesen. Sollten wir aber diesen nach dem Grund dafür fragen, so würde ihm wahrscheinlich seine Erklärung mißlingen. Vielleicht sagt er uns, dieser Psalm sei Gottes Botschaft an die leidende Menschheit, er sei von der Verheißung des göttlichen Schutzes durchdrungen, und hundert andere Dinge. Ist er aber auf dem Meer in der Zone der Unterseeboote, oder unter den Bombenlöchern im „Niemandesland,“ so zieht er es wohl vor, sich in ersterem Fall auf den Schutz eines Torpedozerstörers und im zweiten Fall auf einen schützenden Feuerwall zu verlassen. Zur weiteren Erklärung würde er ganz naturgemäß sagen, Gott habe den Menschen dem Verstand gegeben, vermöge dessen sie sich schützen könnten, und der Zerstörer und der Feuerwall seien die Bekundungen dieses Verstandes. Nichtsdestoweniger weiß er, daß dieses Folgern unrichtig ist, und wenn er in die Enge getrieben wird, hilft er sich durch die offene Erklärung heraus, daß gläubiges Vertrauen etwas sei, was er weder erklären noch verstehen könne. Der Verfasser des Psalms riet seinen Lesern nicht, sich auf materiellen Scharfsinn zu verlassen, sondern unter dem Schirm des Höchsten zu sitzen, worauf er die Zusicherung folgen ließ: „Ob tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.“
Soll nun, was gewiß klar genug ist, dieser Schutz unter dem Schirm des Höchsten heute für diejenigen praktischen Wert haben, die zur See gehen oder die in der Schlacht ihr Leben daransetzen, dann muß er höherer Art sein, als ihn der blinde Glaube gewährt, den St. Gregorius der Menschheit als den einzig wahren Glauben anbefahl. Die Worte des Psalmisten hatten gewiß etwas zu bedeuten, und diese Bedeutung wurde von Jesus Christus und seinen Nachfolgern in eine Sprache übersetzt, die weniger altertümlich war als die Verse des Dichters, mehr wissenschaftlich als die rednerischen Bilder des Propheten. Wir lesen: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede,. .. werdet [ihr] die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“ Ferner: „Aber es möchte jemand sagen: Du hast den Glauben, und ich habe die Werke; zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, so will ich dir meinen Glauben zeigen aus meinen Werken. ... Willst du aber erkennen, du eitler Mensch, daß der Glaube ohne Werke tot sei?“
Solche Aussprüche bringen gewiß leere Einwände zum Schweigen. Wissen ist ganz etwas anderes als raten, auch hat es nichts gemein mit dem blinden Glauben an die Echtheit der Erfahrungen anderer. Es ist das Ergebnis selbst demonstrierter Erfahrung. Ein Mensch mag an eine anerkannte Voraussetzung glauben, weil er sie in der Theorie für richtig hält; aber die Erkenntnis von der Wahrheit dieser Theorie erlangt er erst dann, wenn er sie demonstriert, oder, wie Jakobus sagt, wenn er seinen Glauben durch seine Werke beweist. Dann rückt sein Glaube zur Erkenntnis vor, und in dem Maße, wie er die Richtigkeit seiner Throrie beweist, wird diese Kenntnis exakt und wissenschaftlich. Er besitzt die volle, genaue und deshalb wissenschaftliche Erkenntnis Gottes, des Christus und der Wahrheit, die Erkenntnis, auf welche die Verfasser des Neuen Testaments ihre Leser so nachdrücklich hinweisen und die so wissenschaftlich ist und solch hohe Forderungen stellt, daß, wie Paulus der Kirche deutlich voraussagte, Sinnlichkeit und Materialität sich gegen sie empört, in der Befriedigung tierischer Triebe geradezu Erleichterung findet und jene physischen Erscheinungen als wahr anerkennt, die als bloße Nachbildungen der Schöpfungen des Geistes oder als Lügen über dieselben zu betrachten sind; denn, wie Paulus sagt: „Sein unsichtbares Wesen wird seit Erschaffung der Welt deutlich ersehen, so man es in den Werken betrachtet“ (Zürcher Bibel). Mit anderen Worten, das einzig Wahre an einer Lüge ist, daß es eine Wahrheit gibt, über die gelogen werden kann.
Paulus legt diese große Wahrheit den Hebräern noch einfacher und bestimmter dar als den Römern, wenn er in jenem berühmten Brief sagt: „Durch den Glauben verstehen wir, daß die Welt durch das Wort Gottes entworfen worden ist, so daß Dinge, die man sieht, nicht aus Dingen gemacht wurden, die da erscheinen“ (nach der englischen Bibelübersetzung). Der Mensch also, der von dem Deck eines Dampfers aus die Furche eines Torpedos im Wasser sieht, oder der fast betäubt wird von dem Donner der Kanonen, die im „Niemandesland“ tiefe Löcher in die Erde reißen, hat es nicht nötig, sich wegen seines Schutzes auf die Kanonen eines Zerstörers zu verlassen oder sich in die Höhlen einer Erdwohnung zu verkriechen. Er braucht sich nur klarzumachen, was Paulus meinte, nämlich, daß der Torpedo und die Granate, wenn sie auch vom menschlichen Auge gesehen werden, nicht aus Dingen entstanden sind, die die menschlichen Sinne wahrnehmen, sondern einfach falsche Begriffe darstellen, die sich das menschliche Gemüt von geistigen Wirklichkeiten gebildet hat. Wenn der denkende Mensch dieser Erkenntnis gemäß handelt, dann findet er, daß er unter dem Schirm des Höchsten sitzet — unter dem Schutze der Erkenntnis, d. h. der absoluten Wahrheit, von welcher Jesus sagte, sie werde die Menschen freimachen von ihren törichten materiellen Vorstellungen.
Im Grunde genommen ist das Gesagte gleichbedeutend mit der Lehre von der Unwirklichkeit der Materie. Dies ist natürlich ein umfassendes Thema für sich, das in den Darlegungen Jesu sowie in denen der Apostel Petrus, Jakobus und Paulus genau und faßlich behandelt wird. Und auf diese Darlegungen gründete Mrs. Eddy ihre in Wissenschaft und Gesundheit enthaltene Lehre von der Krankenheilung. Paulus hatte erklärt, daß die Dinge nicht so sind wie sie erscheinen, daß das Zeugnis der Sinne nicht verläßlich ist, weil physische Erscheinungen ihren Ursprung durchaus nicht in der Materie haben, d. h. in den Dingen, „die da erscheinen.“ Genau das gleiche lehrt Mrs. Eddy, wenn sie in ihrem Werk „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ auf Seite 476 und 477 in bezug auf die sogenannten Wunder Jesu sagt: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.“
Nun bleibt es sich aber ganz gleich, ob die mentale Erscheinung, welche man vernichtet, ein Torpedo im Atlantischen Ozean, eine Bombe im „Niemandesland,“ eine Wunde auf dem Verbandplatz oder ein Fieber im Lazaret an der Operationsbasis ist. Nicht etwa, als ob man ein Torpedo, eine heransausende Granate oder einen Stoß mit dem Bajonett ablenken müßte, wie man ja auch ein Fieber nicht durch die Anwendung der menschlichen Willenskraft beseitigt. Vielmehr vergegenwärtigt man sich, daß diese Dinge „nicht aus Dingen gemacht wurden, die da erscheinen.“ Man sucht die Tatsache zu erfassen, daß man über etwas, was nicht besteht, nicht lügen kann, und daß deshalb der Torpedo, die Bombe, das Bajonett und das Fieber Lügen über irgendeine Wahrheit sein müssen, die, wenn man sie erkennt, frei macht von den Folgen der Unwissenheit, die der materielle Begriff erzeugt. Man sieht die vollkommene Wahrheit, wie Mrs. Eddy sich ausdrückt, und die Lüge verschwindet. Es ist nicht nötig, daß der Torpedo eine andere Richtung nehme, daß die Bombe versage, daß das Bajonett einen anderen Gegenstand treffe, daß die Fieberepidemie plötzlich aufhöre. Diese Dinge verschwinden einfach, wenn man den wahren Begriff von Substanz erlangt. Man entdeckt nicht etwa einen geistigen Torpedo, eine himmlische Bombe, ein gottähnliches Bajonett oder ein Christus-Fieber, sondern man erkennt, daß diese materiellen Erscheinungen alle Nachbildungen der geistigen Wiederspiegelungen des Prinzips oder Lügen über die Ideen im göttlichen Gemüt sind. Damit ist nicht gesagt, daß ein gewisser geistiger Gegenstand genau einem Torpedo, oder einer Bombe, oder einem Bajonett, oder einem Fieber entspreche, sondern es soll heißen, daß das göttliche Gemüt keine Idee umfaßt und das Prinzip kein Spiegelbild abgibt, das nicht geistig und harmonisch ist. Schreibt doch Mrs. Eddy in ihrem Buch Wissenschaft und Gesundheit (S. 310): „Der Gedanke wird schließlich verstanden und in aller Form, aller Substanz und Farbe geschaut werden, aber ohne materielle Begleiterscheinungen.“ Wer das metaphysisch erfaßt und sein Leben mit den erhaltenen Lehren in Einklang gebracht hat, wird einsehen, wie absolut unmöglich es ist, daß der falsche Begriff oder die Lüge als ein Torpedo, als eine Bombe, als ein Bajonett, oder als ein Fieber sich ihm nahen könnte.