Das englische Sprichwort, welches den Kampf mit Armut und Mangel als das Streben bezeichnet, den „Wolf“ von der Tür fernzuhalten, legt uns eine tiefere metaphysische Wahrheit nahe als in der Regel angenommen wird. Armut irgendwelcher Art, sei es Mangel an Mitteln, Mangel an Gesundheit oder Mangel an Glück, ist, wie alle materiellen Phänomene, die Kundwerdung einer falschen sterblichen Gedankenrichtung, die mental erzeugt wird. Solches läßt die Christliche Wissenschaft deutlich ersehen. Vom geistigen Gesichtspunkte aus umgibt das unendliche, göttliche Prinzip den Menschen, das Kind Gottes, mit dem Reichtum und der Fülle des reinen Gemüts. Die „Wölfe am Abend,“ von denen der Prophet spricht und die dem menschlichen Bewußtsein die Erkenntnis geistiger Wahrheiten zu rauben suchen, sind nichts weiter als die falschen Vorstellungen des sterblichen Gemüts. Diese Vorstellungen berauben sich selbst; sie verkörpern ihre Armut in dem Mangel an materiellen Dingen, wie er dem menschlichen Gemüt erscheint, oder aber umgekehrt in der Dürftigkeit, die oft dem ruhmlosen Besitz großer materieller Güter anhaftet.
Die Vorstellung, daß das Dasein physisch anstatt metaphysisch sei, erzeugt oft Nachsicht gegen das materielle Selbst und dessen Passionen und führt so manches Mal zu der weiteren Annahme, daß man irgendein Mittel gebrauchen dürfe, sei es auch bedrückend, verräterisch und hinterlistig, um selbstsüchtige Wünsche zur Ausführung zu bringen. Das materielle Phänomen des Überflusses beweist nicht notwendigerweise, daß man den Wolf von der Tür ferngehalten hat. Vielleicht ist genau das Gegenteil der Fall, indem der Wolf zeitweilig die geistige Idee verscheucht hat. Armut kann nichts anderes heißen als das Fehlen der geistigen Erkenntnis Gottes; und dieser Mangel bekundet sich ebenso gewiß durch Hingabe an die Materie, die man aufgehäuft hat, wie durch Hingabe an die Materie, die man fürchtet nicht aufhäufen zu können.
Unter den zwölf Stämmen Israels, durch welche die allen Sterblichen eigenen materiellen Annahmen versinnbildlicht werden, vertritt Benjamin die Kampflust, welche gerne Eroberungen macht. Jakob, Benjamins Vater, sagte von ihm: „Benjamin ist ein reißender Wolf; des Morgens wird er Raub fressen, und des Abends wird er Beute austeilen.“ Dieser Vergleich deutet offenbar nicht sowohl körperliche Bekundungen als vielmehr gewisse wolfähnliche mentale Zustände an. Der fleischliche Sinn, welchem selbstsüchtige, habsüchtige, stolze, neidische und grausame Annahmen entspringen, ist der Wolf, dessen Unwirklichkeit bewiesen werden muß, wodurch dann sein Einfluß aus der Erfahrung entfernt wird. Im Glossarium zu „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 582) beleuchtet Mrs. Eddy den Zustand des sterblichen Gemüts, welchen Jakob als Wolf bezeichnet, mit folgenden Worten: „Benjamin (Jakobs Sohn). Eine physische Annahme in bezug auf Leben, Substanz und Gemüt; menschliches Wissen oder sogenanntes sterbliches Gemüt, das der Materie ergeben ist; Stolz; Neid; Ruhm; Illusion; eine falsche Annahme; Irrtum, der die Maske eines Besitzers von Leben, Stärke, Lebendigkeit und von der Macht zu wirken trägt.“
Rahel, die Mutter Benjamins, die der menschlichen Auffassung nach ihr Leben für das seinige gab, hatte das Kind Ben-Oni, „Sohn meiner Schmerzen“ genannt; Jakob aber, der den künftigen Trost sah, nannte es Ben-Jamin, „Sohn der rechten Hand.“ Von diesem Sohn hatte sich Jakob viel Trost und Glück versprochen, und von ihm mußte er sich unter dem Druck der Hungersnot zu seinem großen Leidwesen trennen — um die Zeit, wo Joseph vermöge seiner höheren Erkenntnis der Wahrheit, der Liebe, welche Haß überwindet, den Irrtum seiner Brüder rügen und den Reichtum offenbaren sollte, den das Wirken des göttlichen Prinzips für sie alle vorbereitet hatte.
Es scheint eine angeborene Neigung des menschlichen Gemüts zu sein, sich wegen Schutz und Trost auf etwas zu stützen (fast auf irgend etwas), was für die Sinne wahrnehmbar ist. Wenn aber einem menschlichen Bedürfnis nach dem Plan Gottes abgeholfen werden soll, so muß das menschliche Herz sich immer und immer wieder bewußt werden, daß jeder materielle Begriff, an dem es hängt, gegen die geistige Idee streitet, und daß dieser Begriff aufgegeben werden muß, um die höheren Segnungen, die Gott bereitet hat, verwirklichen zu können. Und so geschah es, daß durch Jakobs Dahingabe dieses Sohnes der rechten Hand die geistige Natur des Benjamin als ein Typus der liebevollen Aussöhnung enthüllt wurde; und durch dieses Zugeständnis, das dem Joseph die Aufrichtigkeit seiner Brüder bewies, wurde der Notdurft aller abgeholfen.
Die geistige Eigenschaft, welche gerne gibt und gerne mit anderen teilt, die Eigenschaft, welche die Wolfsnatur des sterblichen Gemüts umzudrehen scheint, beschreibt Mrs. Eddy in ihrer weiteren Darlegung der geistigen Bedeutung von Benjamin in der bereits erwähnten Definition wie folgt: „Erneuerung der Liebe; Selbst-Opfer; ein verbesserter Zustand des sterblichen Gemüts; die Einführung eines geistigeren Ursprungs; ein Strahl der unendlichen Idee des unendlichen Prinzips; ein geistiger Typus; das, was ermutigt, tröstet und erhält.“ Die kriegerische Neigung des Stammes Benjamin, wie sie in Jakobs Segen angedeutet wurde, stand in scharfem Gegensatz zu dem mehr friedlichen Charakter von dessen Stammvater, dem Jüngstgeborenen, der dem Jakob besonders teuer war. Die physische Vorstellung jedoch, daß Leben und Intelligenz in der Materie seien, birgt den Keim des Krieges gegen die geistige Idee in sich. Möge auch der äußere Ausdruck des Kampfes lange auf sich warten lassen oder nie äußerlich zum Vorschein kommen, so findet doch im menschlichen Bewußtsein fortwährend ein Kampf statt zwischen der zwiefachen Neigung einerseits zur Selbstsucht und Grausamkeit, andererseits zur Versöhnung und Menschenfreundlichkeit; und dieser Kampf geht der Annahme nach weiter, bis alle Materialität der geistigen Idee weicht.
Die Zerstörungssucht des Wolfes, der alles zu zerreißen sucht, was seinen Wünschen im Wege steht, anstatt die Herrschaft über sich selbst zu gewinnen und dadurch seine Wolfsnatur und seinen Mangel loszuwerden — diese Zerstörungssucht wurde in der Geschichte Sauls aus dem Stamm Benjamin, des ersten Königs Israels, veranschaulicht. Saul war halsstarrig, widersetzlich gegen die geistige Führung, eifersüchtig gegen seinen Rivalen David aus dem mehr friedlichen Stamme Juda, dem der Erlöser entsprang. Deshalb verfolgte er den David wie ein reißender Wolf, was zuletzt seine eigene Vernichtung zur Folge hatte. Sein Mangel an Liebe erzeugte in ihm den Wolfshunger, der sein Verständnis von der allgemeinen Brüderschaft und somit seinen Begriff von der Einheit der Substanz verdunkelte, und der seine gesellschaftliche und politische Verarmung und den Verlust all seines Besitzes herbeiführte, einschließlich seiner Krone und seines Lebens.
Jahrhunderte später wurde ein anderer Saul aus dem Stamme Benjamin, der eine Zeitlang die Christen grausam verfolgte, plötzlich durch geistige Erleuchtung von seinem ungestümen Wesen befreit. Indem sich so seine Natur änderte, oder vielmehr, indem er das wahre Wesen des Menschen erkannte, wurde er unter seinem neuen Namen Paulus ein eifriger Kämpfer für die Wahrheit. Paulus, der Benjaminiter, war von einem lieblosen religiösen Eifer erlöst, einem Eifer, der alles, was sich ihm widersetzte, zu vernichten suchte. Als Paulus den Kampf gegen die geistige Idee aufgegeben und seine Gedanken mit ihr in Einklang gebracht hatte, war er bereit, den Lohn des „Selbst-Opfers“ zu würdigen — zum Wohl der Heiden die „Tiefe des Reichtums, beide, der Weisheit und Erkenntnis Gottes“ wiederzuspiegeln.
Der sterbliche Benjamin, d. h. das unwirkliche, versteckte Element der Streitsucht, des Stolzes, des Neides, des Trachtens nach Ruhm und Macht, scheint auf der sterblichen Stufe unablässig mit der mehr geistigen Idee des „Selbst-Opfers,“ mit der Idee der Liebe, welche „ermutigt, tröstet und erhält,“ den Kampf zu führen. In dem individuellen Bewußtsein, in den sozialen, politischen, handelswirtschaftlichen und religiösen Einrichtungen sucht der böse materielle Sinn das eigene Selbst auf Kosten der geistigen Liebe und des Edelmuts zu befriedigen. Er trachtet danach, sich das Gewünschte durch Eroberung anzueignen, durch Bezwingung von Zuständen oder anderen Menschen, anstatt dem geistigen Sinn zu weichen, der durch die Wiederspiegelung des göttlichen Prinzips Überfluß zur Verwirklichung bringt. Die geistige Idee, die in das menschliche Bewußtsein einkehrt und alles Materielle vertreibt, ist unversehrt und unzerstörbar. Die Krallen der Habsucht können es nicht zerreißen, List und Grausamkeit kann es nicht unterdrücken. Geistige Erkenntnis überwindet den Wolf — jeden materiellen Zustand, der wider die geistige Idee streitet — durch die Erkenntnis der Unwirklichkeit des Bösen; oder, genauer ausgedrückt, für den geistigen Sinn gibt es keinen materiellen Wolf. Hierin besteht die Nichtsheit des Bösen, und diese Erkenntnis entwaffnet Neid, Stolz und die Machtanmaßung des Bösen; sie nimmt der Armut jeder Art ihre Grundlage.
Jesus, der Christus, der das sterbliche Gemüt durchschaut und überwunden hatte, sagte zu seinen Nachfolgern, ja zu allen, deren materielle Natur sich der umwandelnden Macht hingaben, welche die Erkenntnis von des Menschen geistigem Ursprung und seinem geistigen Wesen verleiht: „Siehe, Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“ Er wußte, daß, wie die Wölfe des Tierreichs der Sicherheit halber ihre Angriffe bei Nacht oder bei trübem Wetter machen, so auch in Zeiten des Drucks, wenn das menschliche Bewußtsein von dem Mesmerismus der Materialität getrübt ist, die wolfartigen Suggestionen des Bösen hypnotischen und despotischen Einfluß ausüben und dann entfliehen, um weitere Greuel zu verüben, es sei denn, die Gedanken sind so wachsam und rein, daß sie die Unwirklichkeit des Bösen sehen und den Kampf gegen die geistige Idee zu Ende bringen können.
Dem Wolfe ähnlich sind ferner die unharmonischen Töne des sterblichen Gemüts, die Zeugnisse der sterblichen Sinne, die fortwährend der Erkenntnis, daß der Mensch mit seinem göttlichen Prinzip im Einklang steht, entgegenzuwirken scheinen. Solcher Art war des Petrus kampfbegieriger Widerstand gegen das Böse, der störend auf Gethsemanes Akkord der Liebe wirkte. Solcher Art war auch des Thomas Zweifel an der Macht des Geistes. Der Zweifel an der vollkommenen Übereinstimmung mit dem göttlichen Prinzip ist es, der die Bekräftigungen der christlich-wissenschaftlichen Behandlung nötig macht. Johannes, der Geliebte, schaute jedoch den Sieg der geistigen Idee. Als ihm ein Einblick in die Wirklichkeit zuteil wurde, sah er unter den Knechten Gottes, die das Siegel an ihrer Stirn hatten, zwölftausend aus dem Stamme Benjamin. Hieraus ist ersichtlich, daß die Erkenntnis der Harmlosigkeit und gegenseitigen Übereinstimmung aller geistigen Ideen in der Wirklichkeit des Seins hinreicht, alle sterbliche Hingabe an die Materie zu beseitigen. Diese Erkenntnis vernichtet das Streben, zu erobern und zu unterwerfen, samt all dem Unglück, den Kriegen und dem Mangel des materiellen Daseins, wofür diese physische Vorstellung von Leben und Substanz verantwortlich ist.
Vermöge der Erkenntnis des göttlichen Gemüts kann der Mensch den Wolf in seinen eigenen Gedanken überwinden — all die grausamen und selbstsüchtigen Regungen des sterblichen Gemüts, welche die geistige Idee verfolgen. Jesaja erkannte, daß nach dem Aufgang dieser Erkenntnis im menschlichen Bewußtsein „die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen.“ So kommt es, daß heute der verarmte Benjamin, der andere beneidet und bekämpft, dem Benjamin weicht, der da liebt. Die Eigenschaft der „Selbst-Opferung“ spiegelt auf Erden den Geist der Liebe wieder, welcher die wahre menschliche Natur erquickt, tröstet, stützt und bereichert, und die Bedeutung folgender Worte Mrs. Eddys wird offenbar (Wissenschaft und Gesundheit, S. 5): „Gott läßt den Reichtum Seiner Liebe in das Verständnis und in die Neigungen hineinströmen und gibt uns Stärke für einen jeglichen Tag.“ Wenn die physischen Vorstellungen in bezug auf Leben, Substanz und Gemüt von den Pforten des Denkens vertrieben sind, wenn die Erkenntnis des göttlichen Prinzips menschliche Kenntnis ersetzt und die Hingabe an die Materie der Hingabe an die geistige Idee weicht, dann kann die Fälschung, die Unwirklichkeit nicht mehr die Illusion des Mangels bewirken, denn der auf diese Weise erlöste Mensch erhebt vertrauensvoll Anspruch auf den geistigen Segen, welchen Moses über den wahren Benjamin aussprach, als er von ihm sagte: „Der Geliebte des Herrn wird sicher wohnen; allezeit wird Er über ihm halten und wird zwischen seinen Schultern wohnen.“