Ein kleiner Brief mit Trauerrand, der Kummer und Verlust ankündigte, fiel in meinen Schoß. Von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, Worte des Trostes und der Ermutigung zu senden, anstatt den Kummer meiner Freunde durch rein menschliches Mitleid zu vermehren, saß ich da, schaute zum Fenster hinaus und öffnete mein Herz der Allheit des Lebens, wie die Christliche Wissenschaft sie uns lehrt. Plötzlich kam mir ein Vogel zu Gesichte; er wandte sich aber gleich wieder und flog vom Fenster fort. Schnell und sicher glitt er dahin. Ich blickte ihm aus dem Fenster nach und sah, wie er immer kleiner wurde, bis er nur noch ein winziges Pünktchen war, das dann am klaren Morgenhimmel verschwand. Als ich so in das ruhige, sonnige Blau schaute, tat ich einen Blick in das unermeßliche Bereich der Unendlichkeit und erkannte zugleich die klägliche Unzulänglichkeit der materiellen Sinne.
Der lustige Vogel war verschwunden, aber was war geschehen? Für ihn hatte sich nichts verändert; er war in Wirklichkeit nicht in dem fernen Blau untergegangen. Er richtete noch immer seinen Flug seinem Ziele zu. Nur in mir, die ihm nachschaute, lag die Schwierigkeit. Mein Gesichtssinn war so begrenzt, daß ich den Vogel nur bis zu einem gewissen Punkte folgen und ihn dann über diesen Punkt hinaus nicht mehr sehen konnte. Ich wußte, durch ein Fernrohr hätte man ihn noch lange sehen können.
Indem ich mir diese Beobachtung geistig auslegte, konnte ich mir einigermaßen eine Vorstellung davon machen, wie uns infolge unserer begrenzten materiellen Auffassung der Dinge der Schein trügt, wenn Freunde unseren Blicken entschwinden. Hier fiel mir die Erfahrung der drei Jünger ein, die Moses und Elias mit Jesus sprechen sahen, als dieser vor ihnen verklärt ward. Hatte nicht sein Verständnis von der geistigen Wirklichkeit für seine Jünger die unwirklichen Schranken von Zeit und Raum beseitigt, mit denen die materiellen Sinne ihr Sehvermögen beschränken wollten? Verdankten sie es nicht seiner rein geistigen Erkenntnis, daß sie Moses und Elias da sehen konnten, wo sie in Wirklichkeit sind — und wo alle Kinder Gottes in Wirklichkeit weilen —, nämlich in dem Jetzt und Hier des ewigen Gemüts? Der menschliche Sinn, den die Annahme von persönlichem Verlust verdunkelt, mag wohl einwerfen, daß es für die Jünger leicht gewesen sei; diesen Blick in die geistige Wirklichkeit zu tun, da ja Jesus Christus ihnen half. Wir wissen jedoch, daß seine geistige Identität, seine Gottgleichheit und nicht sein Körper aus Fleisch und Blut dazu beigetragen hatte, die Gedanken seiner Jünger zu erheben. Diese Individualität starb niemals und entfernte sich niemals. Obwohl der fleischliche Körper verschwand, so sagte der Meister doch: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Trotz dieser Verheißung sitzt oft der menschliche Sinn in seinem Sorgentale, grübelt über den scheinbaren Raum zwischen diesem Tale und dem Gipfel geistigen Schauens, und fragt sich: „Wie können wir den Weg finden?“ Aber Jesus stand nicht abseits von uns auf dem Berge geistiger Wahrnehmung, er ließ uns nicht hilflos und einsam im Tale zurück. Wir können den Weg finden, können jeden einzelnen Schritt richtig tun lernen. Mrs. Eddy sagt auf Seite 58 ihres Werkes „Unity of Good“: „Er [Jesus] war zu weise, als daß er nicht bereit gewesen wäre, das ganze Maß menschlichen Leidens zu kosten, da er ,versucht' ward, allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde.'“ Wenn er allenthalben versucht ward und doch ohne Sünde blieb, dann kann es für uns keinerlei Irrtum geben, den er nicht schon überwunden hätte. Mögen die Sterblichen scheinbar in einen noch so tiefen Abgrund des Kummers hineingeraten, die Liebe und das Erbarmen Christi war schon vor ihnen dort, um ihnen Schritt für Schritt den Weg aus der Tiefe zum Gipfel geistiger Freude und Errungenschaft zu bahnen. Wenn wir also um göttliche Führung bitten, so werden wir sicherlich immer etwas in den Werken und Worten Jesu finden, was uns, unserer menschlichen Notdurft entsprechend, in jedem einzelnen Falle direkt und sicher führt.
Mrs. Eddys Lehre erklärt und zeigt uns den Weg, den Jesus wandelte und uns zu wandeln lehrte. Sie beschreibt das Christus-Sehen deutlich in einer Stelle, die auf Seite 476 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ anfängt: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauuug vom Menschen heilte die Kranken.“ Wenn man über diese Erklärung vom geistigen Schauen, das Jesus bekundete, weiter nachdenkt, so kommen einem viele Beispiele seiner Heilungswerke ins Gedächtnis, wie sie in den Evangelien berichtet werden. Wir sehen den Mann, dessen verdorrte Hand ihm gesund wurde wie die andere; die Aussätzigen, die gereinigt wurden; den, der da blind geboren war und nun wieder sehen konnte; des Hauptmanns. Knecht, der von der Gicht befreit, die Tochter des kananäischen Weibes, die wiederhergestellt wurde. Wir sehen, wie Teufel ausgetrieben, wie Krüppel, Lahme und Blinde, alle, die zu ihm kamen, geheilt wurden. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß diese wunderbaren Heilungen beständige Begleiterscheinungen des täglichen Lebens unseres Meisters waren, und daß seine geistige Erkenntnis stets den falschen sterblichen Augenschein berichtigte und auslöschte, dann fangen wir an, den Weg zu erkennen, den er so geduldig und beständig schritt und der ihn zu solch erhabenen geistigen Höhen führte.
Die göttliche Idee hat uns somit nicht nur auf die großen Möglichkeiten geistiger Erkenntnis hingewiesen, um unser Streben zu inspirieren, sondern sie hat uns auch liebevoll die ersten Schritte gezeigt in der Richtung, die zu diesem hohen Ziele führt. Mögen wir auch nicht imstande sein, den unsterblichen Menschen zu erkennen, wenn für die menschlichen Sinne ein Sterblicher verschwindet, so gelangen wir doch jedesmal, wenn wir dadurch Heilungen demonstrieren, daß wir in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen erblicken, „wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint,“ einen Schritt vorwärts auf dem Wege, der zu dieser Höhe führt. Sind wir auch nicht imstande, mit einem Sprunge die so inbrünstig ersehnte Höhe geistigen Schauens zu erreichen, wo „der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei,“ sollen wir es deshalb unterlassen, die ersten Schritte zu tun, die uns so liebevoll und geduldig gezeigt worden sind? Sollen wir uns von dem, was die materiellen Sinne fälschlicherweise für wahr, unabwendbar, und endgültig erklären, blind machen lassen gegen die Tatsache, daß es einen Ausweg gibt?
Laßt uns nicht in dem Tale des Kummers verweilen, vom Mitleid mit uns selbst betört oder mit sterblichen Händen hilflos an den unwirklichen Schranken des materiellen Sinnes rüttelnd. Der Weg, den uns Jesus aus diesem Tale gezeigt hat — und es ist dies der einzige Weg, der herausführt —, besteht darin, daß wir in diesem Augenblicke anfangen und täglich und stündlich dabeibleiben, in uns und in anderen mehr von der Gesundheit und Güte wahrzunehmen, die dem wahren Menschen eigen sind. Und indem wir dem Tale des leidenden Sinnes den Rücken kehren und in der Richtung geistiger Errungenschaft vorwärts schreiten, werden wir Schritt für Schritt auf dem rauhen Wege geleitet. Unsere Freude besteht in dem Bewußtsein, daß wir den Weg gehen, den Jesus ging, und daß wir uns gleich ihm zuletzt über die unwirklichen Schranken von Zeit und Raum erheben werden, bis wir durch göttliche Führung erkannt haben, daß Gott kein Gott „der Toten, sondern der Lebendigen Gott“ ist; „denn sie leben ihm alle.“