Der Denker ist der wahre Helfer der Menschheit. In bezug hierauf äußert sich Mrs. Eddy in ihrer Botschaft v. J. 1900 (S. 3) wie folgt: „Der wahre Denker und Arbeiter tut sein Bestes, er denkt für die Jahrhunderte. Es gibt keine Hand, die nicht seine Hilfe, kein Herz, das nicht seinen Trost fühlt.“ Und im weiteren sagt sie: „Diejenigen, die gute Arbeit und gute Arbeiter lieben, sind selber Arbeiter — Arbeiter, die ein Leben zu würdigen wissen und die bestrebt sind, die schlummernden Möglichkeiten des Menschen zu wecken. Und was sie denken und tun, entspricht annähernd dem, was der beste Denker und Arbeiter getan hat.“ Nun fürchtet sich aber das sterbliche Gemüt vor dem Denker und macht in jeder Nation Pläne, um ihm Schwierigkeiten in den Weg zu legen. In einem Lande z. B. führt es den Ahnen-Kultus ein und sucht mit der eisernen Hand der Vergangenheit die Zeremonien der Gegenwart und die Handlungen der lebenden Männer, Frauen und Kinder einzuschränken.
In anderen Ländern wiederum sind es die klugen Worte eines Redners oder eines Theologen der Vergangenheit, die zu Fesseln geschmiedet und dem selbständig Denkenden angelegt werden. Oder vielleicht ist es der König, der sich Beschützer der Gläubigen nennen läßt, worauf er den Glauben formuliert, den er zu beschützen gedenkt, in der Erwartung, daß das Volk aufhöre, selber zu denken und statt dessen seine veränderlichen Formeln annehme. Gerade auf dem Gebiete der Religion haben sich die Denker am meisten gefürchtet, denn hier besonders trachtet man aus naheliegenden Gründen nach Ständigkeit und Frieden. Das sterbliche Gemüt bietet einen falschen Frieden des Dogmas und eine mechanische Ständigkeit der Traditionen vergangener Zeiten. Nimmt man aber schlimme erbliche Übertragung oder verkehrte bezw. unvollkommene Begriffe von Gott an, so läßt man es zu, daß die Vergangenheit der Gegenwart ein Gefängnis baut.
Einstmals wurde ein Grabmal errichtet, welches dazu bestimmt war, bis ans Ende der Zeit zu dauern. Man tat alles mögliche, um es so unzerstörbar wie die Berge zu machen, und es trug eine prahlerische Aufschrift, die der Zeit Trotz bot. Aber dem Leben kann man nicht trotzen. In einer kleinen Spalte des Mausoleums setzte sich ein Samenkorn fest. Die mit unsichtbarem Staub erfüllten Winde brachten ihm die nötige Erde, und der unparteiische Regen bewässerte es. Zuletzt sprengten die Wurzeln der heranwachsenden Pflanze mit unwiderstehlicher Gewalt das Grab des Theoretikers, der da dachte, der Tod könne dem Leben trotzen, und machte daraus einen Steinhaufen, der nun dem grünen Baum als Garten dient. So geht es immer, wenn es sich um das triumphierende Leben handelt. Im Reich der Gedanken müssen wir erkennen lernen, daß man nicht eigentlich lebt, wenn man Vorstellungen und Überlieferungen sortiert, die man aus der eigenen Vergangenheit herübergenommen hat, oder wenn man sich in seine einmal angenommenen Theorien einzuhüllen sucht; denn leben bedeutet denken, und denken bedeutet das Erkennen des Prinzips, welches wiederum Leben ist.
Christus Jesus störte die tief eingewurzelten Anschauungen der Religionsbekenner seiner Zeit, weil er Gott in die Gegenwart brachte. Diese Menschen waren gerne bereit, von früh bis spät über ihren alten Gott zu reden, und sie hatten die Berichte über Israels Vergangenheit so genau studiert, daß sie sogar angeben konnten, wie viele Buchstaben in jedem Abschnitt der heiligen Bücher enthalten waren, auch besaßen sie zahllose Kommentare und Erörterungen über das Gesetz. Das Ergebnis war, daß das wahre Gesetz Gottes durch die Annahmen, Überlieferungen und Theorien des sterblichen Gemüts aufgehoben wurde. Statt dessen wurden dem Sucher nach Gott und Seinem Frieden und Seiner Erlösung „solche Lehren“ geboten, „die nichts denn Menschengebote sind“ und die von Streiterörterungen und verwirrenden Auseinandersetzungen bekliedet waren. Christus Jesus brachte Leben dahin, wo theologischer Tod herrschte, und zwar deshalb, weil er ein Denker war, der Gott als Leben erkannte und das Leben zur Voraussetzung machte. Deshalb konnte er sagen: „Ich bin kommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“ Die Entdeckung der Christlichen Wissenschaft ist einem Denkprozeß zuzuschreiben, der von der Voraussetzung ausging, daß Gott Leben ist. Dies sollte man nicht vergessen.
Es ist gesagt worden, die Menschen würden von den sinnlosen Traditionen der Vergangenheit gefangen gehalten, damit sie nicht denken könnten. Man kann hinzufügen, daß die Menschen in gleicher Weise die Gefangenen des Mesmerismus der Gegenwart sind. Der umherziehende Mesmerist früherer Jahre reichte jedem einzelnen aus einer Anzahl von Opfern das gleiche Glas Wasser, und ein jedes schmeckte ein anderes Getränk und nannte es entweder angenehm oder widerlich. Wohl ein halb Dutzend Zeitungen äußern sich über die Handlung eines Menschen, wobei eine jede ihre besondere Ansicht zum Ausdruck bringt. Und der Leser nimmt in allen Fällen die Ansicht seiner Lieblingszeitung an, möge sie auch einseitig und verkehrt sein. Auf diese Weise werden die Leser in zwei Gruppen eingeteilt, die einander feindlich gegenüberstehen und sich bekämpfen, obgleich die in Frage stehende Handlung, metaphysisch betrachtet, nur eine Auslegung zuläßt. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß Unterwerfung unter den Mesmerismus nicht Denken bedeutet, ebensowenig wie man es Denken nennen kann, wenn man sich dem Aberglauben ergibt. Nun ist es, insoweit die Freiheit des Opfers in Betracht kommt, ganz einerlei, ob die mentale Suggestion wohl gemeint ist oder einen bösen Zweck hat. Es fehlt dem Opfer das Glück der Freiheit, denn das sterbliche Gemüt erregt ohne Erbarmen in ihm Haß und Liebe, Empfindungen und Leidenschaften, Hoffnungen und Befürchtungen. „Die Gottlosen, spricht der Herr, haben keinen Frieden.“ Deshalb werden die Gottlosen wohl kaum ihren Opfern Frieden bringen.
Wahr denken heißt dem Christus nachfolgen. Es hat jemand die Frage gestellt. Welche Eigenschaften sehen die Frauen am liebsten bei einem Manne? Die Antwort lautete: Sanftmut, Geduld, Nachgiebigkeit, Nachsicht. Und was bewundern die Männer an einer Frau? Mut, Weisheit, Klugheit und Ordnungssinn. Diese Antwort wurde in beiden Fällen gut geheißen. In einem Heim sieht es z. B. eine Frau nicht gerne, wenn sie allein die nötige Geduld üben soll. Von dieser Eigenschaft heißt es in einem pessimistischen Sprichwort, sie sei „selten bei einer Frau und nie bei einem Manne“ zu finden. Sobald aber ein Mann anfängt, als Christlicher Wissenschafter zu denken, fängt er an, geduldig zu sein. Ferner weiß er die Umwandlung zu würdigen, wenn seine Gehilfin beginnt, als Christlicher Wissenschafter zu denken, so daß er nicht mehr für beide Klugheit beweisen muß. Dies veranschaulicht die Wahrheit der Worte in Wissenschaft und Gesundheit auf Seite 102: „Die Christliche Wissenschaft plündert das Reich des Bösen und fördert im höchsten Maße die Zuneigung und die Tugend in den Familien und deshalb in der Allgemeinheit.“ Das Denken bringt den vollen Charakter oder die vollkommene Männlichkeit zum Ausdruck, nämlich das Maß „des vollkommenen Alters Christi.“ Es entstehen dann keine quälenden Unvollkommenheiten und kein ärgerlicher Widerstand mehr, denn die Unterschiede, auf denen sie beruhten, sind in Einklang gebracht. Paulus drückt dies mit folgenden Worten kurz und bündig aus: „Hie ist kein Jude noch Grieche, hie ist kein Knecht noch Freier, hie ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu.“
Dadurch, daß die Zeitschriften der christlich-wissenschaftlichen Bewegung wunderbare Zeugnisse bringen über Erneuerung, Heilung und die Entdeckung des echten Glücks, tragen sie gewiß sehr dazu bei, der Welt Mrs. Eddys Erklärung auf der ersten Seite des Vorworts zu ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ klar zu machen: „Die Zeit für Denker ist gekommen.“