Dinge kommen und gehen, nur die Zeit geht ewig weiter — so kommt es dem menschlichen Sinn vor. Das menschliche Dasein ist ganz und gar zeitlich, ist von der Zeit abhängig. Die menschliche Sprache ist von dem Zeitgedanken durchdrungen; Tätigkeit und Dasein werden in der Zeitform der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft ausgedrückt; alles menschliche Streben, sei es auf dem Gebiete der Politik, des Handels, der Erziehung, der Ethik, der Wissenschaft oder der Religion, gründet sich auf die Voraussetzung, daß die Zeit einer der wichtigsten Faktoren sei, mit denen man zu rechnen hat. So tief ist die Vorstellung von dem Dahineilen der Zeit in die menschliche Erfahrung eingewurzelt, daß es fast unmöglich ist, sich die Ewigkeit als vom Zeitbegriff getrennt zu denken. Die Ewigkeit wird in der Sprache der Zeit beschrieben, wie z. B. in dem Ausdruck: „Die endlosen Jahre der Ewigkeit.“ Und doch steht die Zeit mit der Ewigkeit ebensowenig in Beziehung wie die Materie mit dem Geist. In beiden Fällen ist das Vergängliche einfach eine Nachbildung, die weder zum Unvergänglichen führt noch auf dasselbe hinweist. Wenn wir die Wunder der Ewigkeit und des Geistes erkennen und erleben, dann verlieren die Vorstellungen von Zeit und Materie ihre Bedeutung und verschwinden.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob der Strom der Zeit unaufhörlich und gleichmäßig dahinfließe; aber haben wir nicht alle schon Erlebnisse gehabt, die uns sehr kurz erschienen, und dann wieder andere, die scheinbar sehr lange dauerten? In ein und demselben Hause meint der eine, der letzte Monat sei ihm wie ein Jahr vorgekommen, während derselbe Monat einem anderen nicht länger als eine Woche erschien. Infolge des Unterschiedes im Bewußtseinszustand dieser beiden Personen schien der Strom der Zeit mit verschiedener Geschwindigkeit zu fließen. Diese Erfahrung hinsichtlich der Zeit, eine Erfahrung, die, wie wir alle wissen, sehr häufig vorkommt, war ganz und gar von dem abhängig, was die Aufmerksamkeit jedes einzelnen in Anspruch nahm.
Sodann ist es nicht das Dahineilen der Jahre, was das Aussehen der Jugend oder des Alters zu verleihen scheint, sondern unsere Vorstellung in bezug auf die Jahre. Der größte amerikanische Erfinder kümmert sich nur wenig um die Zeit; daher hat sie sich auch nur wenig um ihn gekümmert. Mrs. Eddy erwähnt einen merkwürdigen Fall (siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 245), wo eine Dame, die vierundsiebzig Jahre alt war, durch gewisse Umstände das Aussehen einer Zwanzigjährigen beibehalten hatte. Andererseits finden sich in der Geschichte viele Beispiele früher Reife und frühen Alters, wie z. B. bei jenem europäischen Monarchen, dessen Haar in einer einzigen Nacht grau wurde. Es ist daher klar, daß die Spuren der Zeit nicht von dem Verfließen der Jahre abhängig sind, sondern vielmehr von dem mentalen Zustand.
Wiewohl nun die Zeit als psychologisches Phänomen auf verschiedene Menschen verschieden zu wirken scheint — wäre es nicht möglich, daß sie als physisches Phänomen im materiellen Weltall unveränderlich ist? Hinsichtlich dieser Frage dürfte es von Interesse sein, daß die Physiker in den letzten Jahren der sogenannten Theorie der Relativität große Aufmerksamkeit geschenkt haben. Dieser Theorie zufolge ist die Zeit, und zwar nicht nur die Zeit als eine Erfahrung im menschlichen Bewußtsein, sondern auch wie sie nach allen gewöhnlichen Naturvorgängen bemessen wird, von der Geschwindigkeit abhängig, mit der sich Körper, wie Welten, durch den Raum bewegen. Somit wäre das Dahineilen der Zeit im Fall einer stillstehenden Welt, wenn es eine solche geben könnte, derart, daß sich die Ereignisse von Jahren wie im Traum in einer Sekunde abspielen würden, während in einer sich rasch bewegenden Welt die Erfahrungen von Sekunden sich vielleicht über hundert Jahre ausdehnen würden.
Die fortwährenden Bemühungen der Physiker, in ihren physischen Theorien die Widersprüche aufzuheben, die durch die Entdeckung neuer Theorien erzeugt werden, führen oft zu erstaunlichen Ergebnissen, wie z. B. in diesem Falle. Von dem Standpunkte ausgehend, daß die Beobachtung von Bewegung ihrem Wesen nach stets relativ sein muß, daß es im Weltall keinen feststehenden Körper gibt, der beim Messen der Bewegung als Anhaltspunkt dienen könnte, sind die Physiker bei der genannten Theorie angelangt, die sich ihrer Gunst in solchem Maße erfreut, daß keine Hypothese in der Physik angenommen wird, die sich nicht mit dieser Theorie vereinbaren läßt. Und so sind die Menschen auf das Wirken der Zeit, das unwiderstehlich weiterzugehen scheint, aufmerksam geworden. Nach den Maßstäben des materiellen Weltalls wird die Zeit jetzt als von der physischen Eigenschaft der Geschwindigkeit der Körper abhängig betrachtet; ihr Vorhandensein im Absoluten ist den Sterblichen unbekannt, denn es gibt nichts, wonach die Zeit bestimmt werden könnte, außer nach gewissen sich wiederholenden Vorfällen, die der Materie innewohnen. Der Schluß, daß die Zeit bloß eine Eigenschaft der Materie ist, ist daher unwiderlegbar, wenn diese Betrachtungen im Lichte der inspirierten Worte erwogen werden, die Johannes auf der Insel Patmos verkündigte: „Und der Engel, den ich sah stehen auf dem Meer und auf der Erde, hub seine Hand auf gen Himmel und schwur bei dem Lebendigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, ... daß hinfort keine Zeit mehr sein soll.“
Hat man alle auf dem Sinnenzeugnis beruhenden Umstände erwogen, so findet man, daß die Zeit bloß eine Phase des menschlichen Bewußtseins ist. Das menschliche Bewußtsein schließt das ganze menschliche Erleben in sich ein, und obschon dieses Erleben ausgelegt wird, als ob es in einer äußeren Welt stattfinde, so ist es, wie uns durch die Christliche Wissenschaft geoffenbart wird, doch nur die eine Illusion, das sterbliche Gemüt, das in jedem vermeintlichen menschlichen Gemüt individualisiert wird. Diese physischen Auffassungen sind stets im Wechsel begriffen, und zwar in solchem Maße, daß heute sogar die Grundlage der materiellen Substanz, des Äthers, in Frage gestellt wird, weil dieser mit der Theorie der Relativität unvereinbar ist. Was sind denn die Gesetze der Materie, wenn deren Grundlagen beständig wechseln? Diese vermeintlichen Gesetze sind bloß ererbte oder formulierte Vorstellungen, die eine Zeitlang mit unserer Erfahrung übereinzustimmen scheinen. In dem Maße jedoch, wie sich unsere Erfahrung verändert, verändern sich auch diese Vorstellungen. Solche dem Wechsel unterworfene Vorstellungen haben natürlich nicht die bindende Kraft eines Gesetzes, daher kann kein materielles Phänomen die Macht haben, den Menschen zu unterjochen, d. h. es hat sie nur insoweit, wie der Mensch ihr Wirklichkeit beimißt.
Gerade wie für den Schüler der Christlichen Wissenschaft die Materie unter dem Scheinwerfer der Wahrheit verschwindet, so zeigt es sich auch, daß die Zeit, die eine Eigenschaft der Materie ist, als ein wirklich maßgebender Faktor keine Macht hat. Wahres Wachstum und wahre Entfaltung wird sich als von der Zeit unabhängig erweisen, und Erfolg wird von der Vorstellung von Verzögerung befreit werden. Es ist daher nicht notwendig, daß eine Krankheit ihren Lauf nehme, oder daß eine gewisse Zeit zur Genesung erforderlich sei. Die Zeit ist für die Sterblichen eine schwere Last gewesen, aber geistige Erkenntnis hat die Wahrheit geoffenbart, die diese Last von den Schultern der Menschheit hebt. Die auf diese Weise gewonnene Freiheit gibt dem Menschen Herrschaft über alle Vorstellungen in bezug auf Jugend oder Alter und löst die Ketten der Unwissenheit, der Disharmonie, der Armut und Unvollkommenheit. Die Sterblichen glauben, es erfordere Zeit, um diese Dinge auszuarbeiten; da aber die Vorstellung von Zeit kein bindendes Gesetz ist, so machen sich die Sterblichen von ihrer scheinbaren Macht in dem Verhältnis frei, wie sie erkennen, daß sie nicht Bewohner eines materiellen Reichs, sondern vollkommene geistige Ideen des göttlichen Prinzips des Weltalls sind.
Die Schranken der Zeit, die sich stets zwischen die Sterblichen und das Gute drängen, das sie erstreben, und die eine weitere Phase der Illusion sind, daß der Mensch von Gott getrennt ist, zerfallen in nichts vor der ewigen Wahrheit, daß der Mensch als der Ausdruck des unendlich Guten von Gott untrennbar ist. Die Wahrheit über alle Dinge ist eine ewige Tatsache. In der Mathematik ist das Produkt von vierundzwanzig und achtzehn eine stets gegenwärtige Tatsache, möge dies auch dem Anfänger nicht augenscheinlich sein. Dieser müht sich mit dem Problem ab, muß vieles auslöschen und wird vielleicht mutlos. Hat er die Lösung erlangt, die er wohl seinen eigenen Anstrengungen zu verdanken glaubt, so erklärt er, es habe so und so lange gedauert, bis er das Resultat ins Dasein gerufen habe, während dem Mathematiker das Produkt sofort bekannt war, als die Zahlen genannt wurden. Nur wegen der scheinbaren Notwendigkeit, geistige Wahrheiten mit physischen Symbolen auszuarbeiten, scheint Zeit notwendig zu sein. Wenn man erkennt, daß die Materie weder ein Teil, noch eine notwendige Begleiterscheinung, noch ein Ausdruck der geistigen Wahrheit ist, so verschwindet das Zeitelement in dem Überwinden physischer Disharmonien aller Art, und die Heilung ist augenblicklich.
Die Illusionen, die uns zu fesseln scheinen und die durch die von den physischen Sinnen erzeugten Beschränkungen zum Ausdruck kommen, werden in allen Einzelheiten umgekehrt, wenn der Mensch und das Weltall als geistig und gut erkannt worden sind. Wunderbare Offenbarungen entfalten sich jedem einzelnen fortwährend in dem Maße, wie er Wahrheiten des Seins entdeckt, die den Gedanken befreien und die Gegenwart und Macht des Geistes, des Lebens und der Liebe lebendiger machen. Unsere Führerin sagt hierüber (Wissenschaft und Gesundheit, S. 598): „Ein Augenblick göttlichen Bewußtseins oder das geistige Verständnis von Leben und Liebe ist ein Vorschmack der Ewigkeit. Diese erhabene Anschauung, die erhalten und festgehalten wird, wenn die Wissenschaft des Seins verstanden ist, würde die Zwischenzeit des Todes mit geistig erkanntem Leben überbrücken, und der Mensch würde in dem vollen Bewußtsein seiner Unsterblichkeit und seiner ewigen Harmonie sein, wo Sünde, Krankheit und Tod unbekannt sind.“ Und im weiteren erklärt sie: „Die Ewigkeit ist das Gottes-Maß seelenerfüllter Jahre.“