Die Welt sieht es für selbstverständlich an, daß wir im Körper leben und von der Materie abhängig sind, und daß unser Leben von materiellen Gesetzen, Vererbung, Erziehung und Zufall regiert wird. Mit bemerkenswerter Kühnheit bestreitet die Christliche Wissenschaft diese eingewurzelte, traditionelle Einschätzung des Lebens. Mary Baker Eddy sagt in ihrem Buch „Vermischte Schriften“ (S. 6): „Gemüt regiert alles. Zweifellos haben wir ein vollkommenes Sein in Gott, denn die Schöpfungen von Leben, Wahrheit und Liebe müssen vollkommen sein, und mit dieser Grundwahrheit besiegen wir Krankheit, Sünde und Tod.“
Hier stellt Mrs. Eddy nicht nur eine revolutionäre Wahrheit auf, sondern sie berichtet uns von der Macht zu heilen, die dieser Wahrheit innewohnt. Sünde, Krankheit und Tod sind die Wirkungen der irrigen Annahme, daß wir in einer Welt der Materie leben und in „Lehmhäusern wohnen“ (Hiob 4:19). Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Materie und Fleisch vergängliche Trugbilder sind, die von einer falschen Annahme erzeugt werden, und daß niemand in einem gebrechlichen, materiellen Körper, sondern im unzerstörbaren Geist, Gott, lebt, beginnen wir die Freiheit des wirklichen Lebens zu fühlen. Wir sind sogleich gesünder, unser geistiger Horizont erweitert sich, und wir sind weniger eingeengt durch die Materie.
Der Christlichen Wissenschaft zufolge gibt es nur ein Leben — Gott. Und der Mensch weilt im Leben als dessen Widerspiegelung; er absorbiert Leben niemals, sondern er ist immer dessen vollkommener Ausdruck. Dann kann der Mensch nicht sterben, noch kann er geboren werden; denn das Leben, das ihm das Sein gibt, geht weder zu Ende, noch beginnt es, sondern es besteht ewig. Christus Jesus bestätigte sein vollkommenes und unsterbliches Dasein in Gott, als er sagte (Joh. 17:5): „Und nun verkläre mich du, Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.“ Des Meisters Leben unter den Menschen war ein beständiges Beispiel von der Wirkung, die dem Verständnis seiner Lehre folgt, daß „das Fleisch ... nichts nütze“ ist (Joh. 6:63). Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Herrlichkeit der geistigen Vollkommenheit der normale Zustand des Menschen ist.
Wir können immer wissen, daß wir leben. In unsern dunkelsten Augenblicken ist diese Tatsache des Lebens klar. Daß wir aber in Gott, dem Leben, bestehen, in einem Zustand völliger Gesundheit und Vollkommenheit, wird nicht so ohne weiteres erkannt. Aber diese Auffassung ist eine Tatsache, ebenso wie das Dasein eine Tatsache ist, und sie kann durch ehrliches Festhalten an der Wahrheit bewiesen werden. Je mehr wir wirklich das christusgleiche Wesen ausdrücken, desto überzeugter werden wir von unserm wirklichen, unsterblichen Sein, und desto sicherer sind wir, daß alle Materie Illusion ist.
Mrs. Eddy sagt in ihrem Buch „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany“ (S. 268): „Diese zeitliche Welt schwirrt wie ein unwirklicher Schatten durch mein Denken, und ich kann die argen Übel der Menschheit nur lindern durch einen unermüdlichen Kampf mit, der Welt, dem Fleisch und dem Teufel‘, in dem Liebe der Befreier ist und dem Menschen den Sieg über sich selbst gibt.“ Das Wissen unserer Führerin, daß die Materie „ein unwirklicher Schatten“ ist, befähigte sie, die Substanz ihres wirklichen Lebens in Gott in so außerordentlichem Grade ans Licht zu bringen. Sie sah den Körper als unwirklich, der den Sterblichen so überzeugend wirklich erscheint, und sie demonstrierte Intelligenz, Liebe und Sündlosigkeit, obwohl die Annahme von der Materie und die Furcht vor ihr diese Eigenschaften zu überschatten suchen. Mrs. Eddys Erkenntnis, daß Vollkommenheit nur durch Vollkommenheit ausgedrückt wird, veranlaßte sie, in ihrem eigenen Leben hohe Geistigkeit auszudrücken und das gleiche von ihren Nachfolgern zu erwarten. Vollkommenes Leben im Geist war für sie keine Abstraktion, sondern eine Tatsache, die immer gegenwärtig ist und ständigen Beweis fordert.
Oft wird eine Heilung durch die Christliche Wissenschaft verzögert, weil sich in dem betreffenden Menschen, der der Heilung bedarf, keine ausreichende Erneuerung des Charakters vollzogen hat. Versteckte Furcht, Auflehnung, Selbstsucht, Sinnenlust, Groll müssen oft durch das Verständnis von des Menschen vollkommenem Dasein in Gott ausgerottet werden, ehe Gesundheit als Tatsache erscheint. In dem Augenblick, in dem das menschliche Denken sich dem göttlichen Charakter und Verstehen nähert, werden Gesundheit und Harmonie wiederhergestellt; denn das wirkliche, unkörperliche Sein ist in gewissem Maße in Erscheinung getreten. Die Gegenwart der Geistigkeit hat die Stärke der Sterblichkeit verringert.
Wenn wir uns bemühen, der Wahrheit der Vollkommenheit gemäß zu leben, wird das wahre Bewußtsein des Daseins gehaltvoller für uns, und die „zeitliche Welt“ erscheint unserm Denken als „ein unwirklicher Schatten“. Unser großer Meister lehrte nicht nur, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist, sondern er lebte bewußt in jenem Reich. Seine Vertrautheit mit seiner eigenen Vollkommenheit in Gott ermöglichte es ihm, Vollkommenheit in andern wahrzunehmen. Und dies vollkommene Schauen zerstörte die Illusion von Unvollkommenheit. Unzählige waren empfänglich für die Macht seines wahren geistigen Schauens und gingen getröstet davon. Sie hatten die wahre Substanz berührt — die für die Sinne unsichtbar ist — welche sie der Vollkommenheit nähergebracht hatte.
Man ist oft entrüstet über die offenbare Ungerechtigkeit des materiellen Daseinsbegriffs, über die Armut, Vereitelung, Krankheit, Unwissenheit und Sünde, die den Eindruck erwecken, die Sterblichen seien durch unvermeidliche und unausbleibliche Umstände versklavt. Aber die Christliche Wissenschaft ist der Aufgabe gewachsen, diese unglücklichen Menschen aus der Illusion, daß sie in einem materiellen Daseinsbegriff weilen, zu der gewissen Demonstration zu erwecken, daß der Mensch in aller Vollkommenheit immerdar in Gott besteht.
Der Vater, der vollkommene Liebe ist, hält Vollkommenheit für alle bereit. Aber diese Tatsache kann nicht erkannt werden, wenn wir annehmen, daß die Materie unsere Behausung ist, und daß wir den Täuschungen der Materie unterworfen sind. Wir müssen aufhören, Vollkommenheit in der unvollkommenen Materie zu suchen und müssen unser wirkliches Selbst im Geist finden. Und wir sollten der Worte Mrs. Eddys eingedenk sein (Vermischte Schriften, S. 104): „Der Christlichen Wissenschaft zufolge ist Vollkommenheit natürlich, nicht wundersam.“
