Sicherlich vermag nur die Inbrunst christlicher Überzeugung die Tatsache zu erklären, daß die beiden Apostel, Paulus und Barnabas, nachdem sie aus der Synagoge in Antiochien vertrieben worden und in der anschließenden heftigen Verfolgung kaum mit dem Leben davongekommen waren, die Synagoge in der Stadt Ikonion besuchten, wie uns als nächstes berichtet wird — immer noch in dem Bemühen, das Interesse der Juden zu gewinnen (s. Apg. 13:50–52; 14:1).
Ikonion, eine sehr alte Stadt, lag in der Landschaft Lykaonien, ungefähr 130 Kilometer südöstlich von Antiochien. Die Apostel scheinen im Herbst 47 n. Chr. dort angekommen zu sein. Dort war ihre Mission zunächst sehr erfolgreich, wie es in Antiochien der Fall gewesen war, als sie zu predigen anfingen, und „eine große Menge der Juden und der Griechen [ward] gläubig“. Aber wie gewöhnlich hatte das Lehren der Apostel in der Synagoge eine doppelte Wirkung. Viele der Zuhörer wurden bekehrt, aber andererseits steigerte es auch die Feindseligkeit jener Juden, die nicht nur Paulus ablehnend gegenüberstanden, sondern auch die Heiden gegen ihn aufzuwiegeln suchten. Trotz allem lesen wir, daß die Apostel „eine lange Zeit“ in der Stadt blieben, was ein oder zwei Monate bis zu einem Jahr gewesen sein könnte. Sie predigten weiter und setzten ihre Heiltätigkeit fort, was aus den Worten hervorgeht, daß sie „Zeichen und Wunder“ (V. 3) vollbrachten — dieser Ausdruck wird im Neuen Testament immer wieder gebraucht, um unter anderem das Heilen physischer Krankheiten zu beschreiben.
Aber auch in dieser Zeit ruhten die Juden nicht; sie entfachten einen Streit wegen der Apostel, bis die ganze Stadt in der Auseinandersetzung über den neuen Glauben geteilter Meinung war. Die Obersten der Juden nutzten diese gespannte Situation aus, um die Heiden auf ihre Seite zu bringen und zusammen mit ihnen Paulus und Barnabas anzugreifen. Aber die Apostel erfuhren gerade noch zur rechten Zeit von der Verschwörung, und es gelang ihnen, aus der Stadt zu entkommen (s. V. 4–6).
Daß sie gerade einem Mob entgangen waren, schwächte nicht den Eifer und Mut der Missionare. Anstatt die Gegend überhaupt zu verlassen, gingen sie nach dem etwa 30 Kilometer entfernten Lystra und setzten dort in aller Stille ihr Werk fort. Lystra, eine im Hochland gelegene Stadt, war, was den Handel betraf, nicht von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu Salamis, Antiochien, Ikonion und anderen Städten, die die Apostel besuchten, gab es dort anscheinend nicht einmal eine Synagoge. Doch mehrere bedeutende Ereignisse im Leben und Wirken des Paulus sollten dort stattfinden.
Lystra war die Heimatstadt des Timotheus, Paulus' jungem Konvertiten, von dem der Apostel liebevoll sagte, er sei sein „lieber und getreuer Sohn in dem Herrn“ (1. Kor. 4:17). In dem zweiten Brief an Timotheus erfahren wir den Namen seiner Mutter, nämlich Eunike, und seiner Großmutter, Lois, deren „ungefärbter Glaube“ in dem Brief hoch gelobt wird (1:5). Höchstwahrscheinlich lernte Paulus auf diesem, seinem ersten Besuch in Lystra Timotheus und dessen Familie kennen (s. Apg. 16:1).
Eine andere denkwürdige Tatsache über Lystra ist, daß Paulus dort seine erste Heilung vollbrachte, von der uns ausdrücklich berichtet wird — außer den erwähnten „Zeichen und Wundern“ in Ikonion.
Als Paulus vor den Einwohnern der Stadt eine Rede hielt, bemerkte er unter der Menschenmenge einen Mann, der von Geburt an lahm war. Der Bericht in der Apostelgeschichte ist in diesem Punkt genau; es heißt dort, daß er „lahm von Mutterleibe“ war „und hatte noch nie gehen können“. Der Apostel sah den Leidenden mit einem forschenden Blick an; er wußte, daß dieser den nötigen Glauben hatte, geheilt zu werden. Dann rief er ihm mit lauter Stimme zu, so daß alle es hören konnten: „Stelle dich aufrecht auf deine Füße!“ Zum Erstaunen der Anwesenden geschah etwas Wunderbares. Dieser Mann, der sein ganzes Leben lang nur Mißbildung gekannt hatte, wurde augenblicklich geheilt; er, der nie gelernt hatte, seine Glieder zu benutzen, gehorchte nicht nur Paulus' Aufforderung, sondern er sprang auf und wandelte vor ihren Augen (s. 14:8–10).
Das Ergebnis dieses Vorfalls war überraschend, ja beunruhigend. Anstatt das von den Aposteln gepredigte Evangelium anzunehmen, ließen sich die Lystraner von dem Wunder, das sie gesehen hatten, fortreißen. Sie konnten es sich nur damit erklären, daß ihre heidnischen Götter Jupiter und Merkurius in der Gestalt des Barnabas und Paulus auf die Erde gekommen waren. Daß sie sogleich diesen Schluß ziehen sollten, ist nicht überraschend, denn einer bekannten Sage gemäß waren dieselben heidnischen Götter schon einmal in ebendem Gebiet in Menschengestalt erschienen. Die Menschen glaubten, der stille und würdevolle Barnabas sei Jupiter (oder Zeus, wie er im Griechischen heißt), der stolze Herrscher über die anderen Götter. Paulus, der „das Wort führte“, wurde ganz natürlich mit Merkurius (dem griechischen Hermes), dem Gott der Redekunst, Jupiters Boten oder Fürsprecher, verglichen. Um dieses große Ereignis zu feiern, brachte der Priester des Jupiter-Temples Ochsen und all das Zubehör für die heidnische Götteranbetung herbei und bereitete ein Opfer für diese angeblich göttlichen Besucher vor.
Offenbar wußten die Apostel zunächst nicht, was vor sich ging, denn es wird ausdrücklich erwähnt, daß die Menschen in ihrer Aufregung in den lokalen Dialekt Lykaoniens verfallen waren, anstatt griechisch zu sprechen, was sie und die Apostel verstehen konnten. Wir könnten uns vorstellen, daß die Apostel anfangs nur ein Bild großer Begeisterung vor sich sahen, wahrscheinlich durch die Heilung des Lahmen hervorgerufen. Sie hörten, wie die Menschen ihre Stimmen erhoben, verstanden aber nicht, was gesagt wurde; selbst die Ochsen und die Kränze, die herbeigebracht wurden, mögen nicht ihren Verdacht wachgerufen haben. Als ihnen aber schließlich jemand sagte, was da vor sich ging, „zerrissen sie ihre Kleider und sprangen unter das Volk, schrien und sprachen: Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen gleichwie ihr und predigen euch das Evangelium, daß ihr euch bekehren sollt von diesen falschen Göttern zu dem lebendigen Gott“ — dem Schöpfer aller Dinge. Sie sprachen dann über Gottes Fürsorge und Seine Gaben; aber trotz all ihrer Bemühungen gelang es ihnen kaum, die Menschen davon abzubringen, ihnen zu opfern (s. V. 11–18).
Die Unberechenbarkeit eines Mobs ist sprichwörtlich, und dieser Vorfall zeigt klar, wie wahr dies ist (V. 19). Zuerst ließen sich die Menschen kaum davon abhalten, die Apostel nicht als Götter anzubeten. Dann wurde Paulus von denselben Menschen in Lystra gesteinigt, und sie ließen ihn liegen, in der Annahme, er sei tot. Dieser völlige Gesinnungswandel mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß die Apostel die Götzenanbetung verurteilten. Doch die unmittelbaren Anstifter zu dem Angriff waren gewisse Juden, die schon früher den Predigten des Paulus ablehnend gegenübergestanden hatten und von Antiochien und Ikonion nach Lystra gekommen waren.
Nach der Steinigung wurde der scheinbar leblose Körper des Paulus vor die Stadtmauern geschleift. Als aber die Jünger ihn umringten, kam er wieder zu Bewußtsein und konnte in die Stadt zurückgehen (s. V. 20). Unter den gegebenen Umständen wäre es jedoch töricht gewesen, länger als unbedingt erforderlich in der Stadt zu bleiben. Am nächsten Tag konnte Paulus mit Barnabas nach Derbe aufbrechen, einer Stadt in demselben Gebiet, die an der Straße von Lystra und Ikonion zur Cilicischen Pforte lag.
