Heute, Da Sie diesen Artikel lesen, gibt es wahrscheinlich keine einzige größere Zeitung auf der ganzen Welt, die nicht über irgendeine Gewalttat zu berichten hat. Straßenkriminalität, Fremdenfeindlichkeit, Haß zwischen Religionen, Krieg, Terrorismus — nur allzuoft finden sich diese Themen in den Schlagzeilen. Und das offensichtlich nicht nur, weil man daraus spannende Sensationsberichte machen kann. Diese Schlagzeilen sind Symptome ernster gesellschaftlicher Probleme, die wir nicht ignorieren können. Die Kosten für die einzelnen Menschen und für die Allgemeinheit sind so ungeheuer, daß es fast unmöglich ist, sie in irgendeiner Weise statistisch oder wissenschaftlich zu erfassen. Aber müssen wir uns davon entmutigen lassen oder darüber verzweifeln? Gibt es denn nicht etwas, was jeder von uns tun kann, um zur Lösung der Probleme beizutragen?
Doch, das gibt es. Aber anfangen kann man damit nicht „da draußen“, wo diese Gewalt allem Anschein nach herrscht. Wir müssen bei uns selbst, in unserem Denken, damit beginnen. Was wir über eine Sache denken, wirkt sich direkt auf unser Leben und auf die Welt um uns herum aus. Oft jedoch ist es den Menschen gar nicht klar, welche Auswirkungen ihr Denken hat. Man glaubt vielleicht, daß es keine Rolle spielt, was jemand denkt, daß nur das zählt, was er tut. Natürlich ist unser Tun außerordentlich wichtig. Aber die Christliche Wissenschaft, die Wissenschaft des ursprünglichen Christentums, lehrt, daß das Denken unser Erleben grundlegend bestimmt. Die Menschen und die Gesellschaft leben nicht in einem Vakuum — und auch nicht in einer rein körperlichen Umwelt. Es gibt eine Gedankenatmosphäre, zu der wir alle beitragen und die ganz entscheidend für das verantwortlich ist, was uns individuell oder kollektiv im menschlichen Leben widerfährt.
Furcht ist zum Beispiel ein Element des sterblichen Denkens, das greifbare Folgen hat. So reagieren Raubtiere aggressiv, wenn sie bei anderen Tieren Furcht spüren. Ganz sicher dient Furcht nicht zu unserem Schutz, und es ist geradezu lebenswichtig, daß wir sie überwinden. Doch wenn wir gegen die Furcht angehen und Sicherheit im Gebet und nicht durch materielle Mittel suchen, sind wir keinesfalls wehrlos gegen die Angriffe von Übeltätern. Im Gegenteil: dadurch werden wir stark. Es gibt viele Fälle, wo sich Menschen durch geistigen Mut und in der standhaften Überzeugung, daß Gott allgegenwärtige Macht, unendliche Liebe, ist, der Gewalt entgegenstellen und sie entschärfen konnten. Sie fühlten sich dabei vollkommen sicher, und sie konnten sogar Heilung bringen.
Andere Elemente des menschlichen Denkens wirken sich ebenfalls auf unsere eigene Sicherheit wie auf das Wohlergehen der Menschen um uns herum aus. Es ist wohl nicht übertrieben, die goldene Regel auch so auszulegen, daß wir uns sorgfältig davor hüten müssen Gewalt gegen andere anzuwenden, wenn wir nicht selbst Opfer von Gewalt werden wollen. Hier werden viele protestieren und sagen: „Aber ich bin doch kein gewalttätiger Mensch.“ Aber haben wir wirklich niemals — auch nicht unabsichtlich — einem Freund die Freude verdorben, einem Nachbarn die Ruhe gestohlen oder einen Kollegen in seiner Selbstachtung verletzt? Immer wieder müssen wir also unser Denken prüfen. Neid, Groll, Haß, Eifersucht, Voreingenommenheit, Selbstgerechtigkeit, persönliche Vergeltung und fehlende Bereitschaft zu vergeben sind häßliche Gedanken. Strenggenommen könnte man sie sogar als Verbrechen bezeichnen. Diese Sünden tun anderen Gewalt an, sie können manchmal ebenso schmerzlich verletzen wie ein Faustschlag — nein, noch viel mehr.
Wenn wir entdecken, daß wir solche Gedanken hegen oder daß unsere Gedanken sich auch nur in diese Richtung bewegen, dann ist es Zeit zu beten. Wie sehr wir auch überzeugt sind, daß jemand unseren Zorn und unsere Vergeltung verdient — wir haben die moralische Verpflichtung, Friedensstifter und barmherzig zu sein, unser Licht in der Dunkelheit scheinen zu lassen und diejenigen zu segnen, die uns fluchen. All diese Pflichten finden sich in Christi Jesu Bergpredigt im Neuen Testament. Diese Predigt gibt den Christen wohl die eindringlichste Belehrung über ihre Verantwortung, niemandem ein Leid zuzufügen — sei es durch Gedanken, Worte oder Taten —, sondern vielmehr allem Leid und aller Gewalt ein Ende zu bereiten.
Denken wir zum Beispiel an die Ermahnung des Meisters, unserem Ärger keinen freien Lauf zu lassen und uns statt dessen mit unserem Bruder zu versöhnen (Mt 5:21–24); oder nicht begehrlich auf andere zu schauen (Mt 5:27, 28); oder die andere Wange darzubieten, anstatt Rache zu üben (Mt 5:38, 39); oder unsere Feinde aufrichtig zu lieben (Mt 5:43, 44). „Ihr habt gehört", sagt Jesus zu seinen Nachfolgern, „daß gesagt ist:, Du sollst deinen Nächsten lieben’ und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.“
Mary Baker Eddy erklärt in ihrem Lehrbuch Wissenschaft und Gesundheit ausführlich die Wirkung des Denkens auf die menschliche Erfahrung. Und sie bringt dies ausdrücklich in Zusammenhang mit den Lehren Jesu. „Sünde und Krankheit müssen gedacht werden“, schreibt sie, „ehe sie offenbar werden können. Du mußt die bösen Gedanken im ersten Fall beherrschen, sonst beherrschen sie dich im zweiten. Jesus erklärte: Mit Verlangen auf verbotene Dinge blicken heißt ein moralisches Gesetz übertreten. Er legte großes Gewicht auf die für die Sinne unsichtbare Tätigkeit des menschlichen Gemüts.“
Mrs. Eddy fährt fort: „Böse Gedanken und Absichten reichen nicht weiter und richten nicht mehr Schaden an, als unsere Annahme zuläßt. Böse Gedanken, Gelüste und boshafte Absichten können nicht wie fliegender Blütenstaub von einem menschlichen Gemüt zum anderen wandern und dort unvermutet Aufnahme finden, wenn Tugend und Wahrheit eine starke Schutzwehr bilden.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 234.
Wie ist das in die Tat umzusetzen — wie können wir unsere Gedanken beherrschen und, was noch wichtiger ist, die sündigen, schädlichen Suggestionen ausschalten? Wie können wir unserer christlichen Verantwortung gerecht werden und eine starke, sichere Verteidigung aufbauen? Wie können wir sogar die lieben, die uns Unrecht getan oder Schmerz zugefügt haben, und Gewalt abwenden und Heilung bringen? Die Christlichen Wissenschafter befolgen das Gebot des Meisters, zu lieben und zu beten. Sie begreifen, daß sie das am besten tun können, wenn sie das wahre Wesen Gottes und Seines Ausdrucks, des Menschen, von Grund auf verstehen. Die Christliche Wissenschaft offenbart Gott als göttlichen Geist und göttliches Prinzip, als das eine Gemüt, das sich selbst zum Ausdruck bringt und weiß, daß seine eigene Schöpfung vollkommen und vollständig ist. Der wahre Mensch, unsere wirkliche Identität, ist die reine, vollkommene und stets gute Offenbarwerdung des Gemüts. Wir alle sind Gottes Kinder, Seine geistige Widerspiegelung, und es können nur Gedanken in uns sein, die ihren Ursprung im göttlichen Gemüt, in Gott, dem Guten, haben.
Das Erfassen dieser göttlichen Wirklichkeit verleiht uns enorme Kraft. Es zeigt uns die Herrschaft, die wir sowohl über unser Denken als auch über unser Leben ausüben können. Die Wahrheit über sich selbst erkennen — die Wahrheit über den Menschen Gottes als vollkommenes Bild und Gleichnis — heißt auch die Wahrheit über jeden Menschen erkennen. Niemand ist aus dieser göttlichen Wirklichkeit der geistigen Individualität des Menschen ausgeschlossen. Und wenn wir das wissen, dann lieben wir aus tiefstem Herzen alles, was Gott erschaffen hat — alle unsere Brüder und Schwestern in ihrem wahren Sein.
Durch diese vollkommene Liebe und durch das Wahrnehmen des vollkommenen Menschen der Schöpfung Gottes konnte Jesus Krankheit und Sünde ganz natürlich überwinden. Die Heilung des geisteskranken Menschen von Gadara war ein kleines Beispiel dafür, wie solch eine christliche, wissenschaftliche Wahrheit weder Raum noch Gelegenheit für Gewalt läßt. Nach seiner Heilung war der Mann friedlich, ruhig, frei, in keiner Weise gefährlich, harmlos im Umgang mit anderen.
Auch für die Formen der Gewalt, denen sich die Gesellschaft in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts gegenübersieht, ist der Weg, den Jesus wies, die einzig reale Möglichkeit, die Probleme auf Dauer zu lösen. Sein Leben und seine Lehren führen uns vor Augen, wie wir das Gesetz Gottes aufrechterhalten und wahre Friedensstifter sein können. Wir müssen dieses Beispiel allerdings befolgen — in unserem Denken wie in unseren Taten. Wie Mary Baker Eddy in Wissenschaft und Gesundheit schreibt: „Der christlich-wissenschaftliche Mensch spiegelt das göttliche Gesetz wider und wird auf diese Weise sich selbst ein Gesetz. Er tut keinem Menschen Gewalt an.“ Ebd., S. 458. Durch die Widerspiegelung des Gesetzes Gottes wendet der christlichwissenschaftliche Mensch buchstäblich Gewalt ab. Seine Gedanken können nur segnen. Er ist ein Heiler.
