Die Wissenschaft Des Christentums geht Hand in Hand mit christlichem Erbarmen. Das erkennt man schon daran, daß die Verfasserin des Lehrbuchs der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, sich so oft auf Gott als Prinzip und auch als göttliche Liebe bezieht. Ganz ähnlich zeigt ihre Verwendung des Begriffs Vater-Mutter für Gott, daß Standhaftigkeit und Zartheit, Vollkommenheit und Güte, Recht und Freundlichkeit zusammengehören. Die meisten würden ohne weiteres die Eigenschaften Standhaftigkeit, Vollkommenheit und Gesetzlichkeit mit dem Wort Wissenschaft verbinden. Wenn darüber hinaus Ausdrücke wie Zartheit, Güte und Freundlichkeit mit der Wissenschaft zusammengebracht werden, dann sieht man den Unterschied zwischen den Naturwissenschaften bzw. der Verhaltensforschung und der Wissenschaft von Gott und dem Menschen, die Christus Jesus lehrte.
Die göttliche Wissenschaft veranschaulicht Vollkommenheit. Das vollkommene Prinzip, Gott, bringt Vollkommenheit hervor. Die göttliche Liebe bewahrt die Vollkommenheit. Der Mensch und das Universum sind der vollkommene Ausdruck dieses göttlichen Prinzips, Liebe. Um geistig heilen zu können, muß der Ausüber der Christlichen Wissenschaft von dieser Grundlage ausgehen, und sein Denken darf nicht von dieser Prämisse abweichen. Was damit aber vielleicht nicht deutlich wird, ist der unerschütterliche Geist der Liebe, der den Ausüber beseelt, die Freundlichkeit und Geduld, die immer da sind, und der Geist der Güte, der den Patienten zum Bewußtsein der Vollkommenheit führt.
Ein Bekannter von mir, dem in seinem Leben ein beträchtliches Maß an geistiger Gnade zuteil geworden war, bat einmal einige wohlmeinende Freunde, ihn doch nicht auf „ein Posest“ zu stellen. Dies würde es ihm sehr erschweren, einen Schritt vorwärts zu machen. Wenn wir ehrlich und demütig genug sind, müssen wir zugeben, daß die Menschheit noch weit davon entfernt ist, die unumstößliche Tatsache der geistigen Vollkommenheit des Menschen zu beweisen. Gibt es unter uns jemand, der glaubt, er habe genug Christlichkeit erlangt, um sich auf einer Ehrentribüne niederzulassen? (Zumal solches Wachstum uns ja eher zu Fußwäschern als zu Podestfiguren machen würde!) Die Christen finden sehr viel Trost und Ermutigung in Jesu überzeugenden Beweisen für das wahre Selbst des Menschen, der der vollkommene Ausdruck Gottes ist. Unsere Liebe und Dankbarkeit wachsen, wenn wir in seinem Beispiel den Ausweg aus menschlichen Schwächen oder gesundheitlichen Schwierigkeiten erkennen. Andererseits kann sich keiner der Forderung des Prinzips nach Vollkommenheit entziehen, und Liebe, wie sie im Leben Christi Jesu veranschaulicht wurde, hilft uns, diese Forderung zu erfüllen.
Jesus konnte in seiner Umgebung, selbst bei seinen Jüngern, menschlich wenig feststellen, was von Vollkommenheit zeugte. Aber das Studium der Heiligen Schrift macht klar, daß er vollkommen war in der Liebe. Und diese christliche Liebe ließ die Anzeichen der Vollkommenheit in seinen Jüngern und in seinen anderen Nachfolgern sowie in allen, die er heilte, wieder aufleben. Weil Jesus die dem Menschen angeborene Vollkommenheit erkannte und weil er die Fähigkeit hatte, sie angesichts der Unvollkommenheit zu erkennen, konnte er das geistige Wachstum seiner Nachfolger schützen und lenken und sie zu besseren christlichen Schülern machen. Das kann eine große Hilfe für uns sein, wenn die Fehler anderer uns beunruhigen.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel! Unter den Mitgliedern der Kirche Christi, Wissenschafter, zirkulierten mehrere Berichte, die behaupteten, die Fehler einiger derer zu belegen, die für die Kirchenorganisation in Boston, Massachusetts, tätig sind. Gerechterweise muß gesagt werden, daß einige dieser Anschuldigungen auf falschen Vermutungen, auf Unkenntnis oder auf Mißverständnissen über die tatsächlichen Ereignisse beruhten. Und doch hat der Vorstand der Christlichen Wissenschaft in dem fraglichen Zeitraum von acht Jahren Kursänderungen vornehmen müssen — was unseres Erachtens in jeder Organisation vorkommt —, und unter den ungefähr 1300 Angestellten gab es leider in einingen Fällen Fehler im Verhalten oder Fehleinschätzungen, die die besondere Aufmerksamkeit des Vorstands erforderlich machten. Bei der sorgfältigen Überprüfung der behaupteten Ungehörigkeiten einiger Angestellter ergab sich, daß die Fehler in den meisten Fällen bereits aufgedeckt worden waren und daß eine Zurechtweisung, eine Heilung und/oder Besserung bereits stattgefunden hatte oder im Gange war. Da solche Zurechtweisungen gewöhnlich nicht vor aller Öffentlichkeit stattfinden, konnten die Verfasser des in Umlauf gesetzten Materials diese Tatsache nicht berücksichtigen.
Und trotzdem kann jede Unvollkommenheit ärgerlich sein. Wenn man jemandem vertraut — einem geliebten Familienangehörigen, einem Beamten im öffentlichen Dienst, einem engen Freund oder einem Kirchenmitglied —, dann ist man betrübt, wenn er versagt. Es kann uns sehr belasten, wenn jemand uns so enttäuscht. Meinen Sie nicht, daß Jesus betrübt war, als er seine Jünger schlafend oder im Streit miteinander vorfand? Aber der Schritt, der als nächstes getan wird, zeigt, ob jemand ein Christ ist. Wenn man auf die Aufdeckung der Fehler eines Freundes oder Kollegen mit Zorn, Unduldsamkeit, Strenge oder anderen Gefühlsausbrüchen reagiert, dann verliert man das Beispiel des Meisters aus den Augen — den Stern von Bethlehem, der durch die Nacht der Disharmonie scheint. Diejenigen, die merken, daß sie ihre mentale Orientierung verloren haben, brauchen dringend die Führung, die Christi Jesu Leben uns gibt.
Christlicher Fortschritt geht von dem Verständnis des Gesetzes Gottes aus und ermöglicht es dem Christen, Vollkommenheit zu beweisen. Manche Menschen meinen, ein Vergehen, dem sie sich gegenübersehen, bestrafen zu müssen, und sie vergessen in dem Augenblick, daß sich ihnen hier die Gelegenheit bietet, zu einer Heilung beizutragen. Mrs. Eddy erklärt, daß die Sünde sich selbst bestraft und daß diese Strafe ausreicht, den Übeltäter zu veranlassen, sich mit Abscheu von der Sünde abzuwenden. Die Sünde zu heilen bedeutet nicht, jemanden laufen zu lassen. Die Heilung führt zur Zurechtweisung, zur Wiedergutmachung und Besserung; und sie ist der Kern der christlichen Praxis.
Jesus rügte sowohl Unmoral als auch Selbstgerechtigkeit. Er stand fest in der Wahrheit, während er die zerbrochenen Herzen verband. Seine Jünger ließen ihn im Stich, aber er ließ sie nie im Stich. Der Frau, die Maria von Magdala genannt wird, Zachäus und dem Mann am Teich von Bethesda gab seine vollkommene Liebe neues Leben, und er gab dem Lauf ihres Lebens eine neue Richtung. Er gab den Jüngern, die ihn verlassen hatten, neue Klarheit, sogar dem ungestümen Petrus und dem zweifelnden Thomas. Das Morgenmahl am Ufer des galiläischen Meeres förderte ihr Wachstum in der Gnade und ihre Nützlichkeit.
Jeder Schüler der Christlichen Wissenschaft sieht sich der Notwendigkeit gegenüber, Fortschritt zu machen. Wie Petrus mag man zuweilen bittere Tränen vergießen. Und wie Mrs. Eddy im Kapitel „Gebet“ in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift andeutet, geht echte Buße gewöhnlich im stillen vor sich, zwischen dem einzelnen und Gott und nicht in öffentlicher Schaustellung. Alle haben mit dem fleischlichen Gemüt zu kämpfen, das behauptet, in einem selbst und in der Welt zu regieren. Bei diesem Kampf sollten die Christlichen Wissenschafter innerhalb der Kirchengemeinschaft jene Brüder und Schwestern finden, die sie, wie Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit sagt, „voller Erbarmen“ ansehen oder sie „durch die göttliche Liebe“ erreichen und ihnen ihre „rechtmäßige Nahrung wie Frieden, Geduld in Trübsal und einen unschätzbaren Sinn von des lieben Vaters liebevoller Freundlichkeit“ geben. Sie werden jenen dankbar sein, die nicht „von einem Gefühl der Abscheulichkeit der Sünde“ Siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 362–367. überwältigt werden, und ihnen so helfen, die Sünde zu besiegen.
Die Ausübung der Christlichen Wissenschaft hat keinen Platz für Unvollkommenheit. Aber dadurch wird der Intoleranz nicht Tür und Tor geöffnet. Es bietet einfach die Gelegenheit für Heilung und Fortschritt, für den Beweis der Vollkommenheit durch die Macht des göttlichen Prinzips, wie es im Leben unseres Herrn zum Ausdruck kam. Sein Beispiel liegt vor uns als der Weg, die Wahrheit und das Leben.
