Die Frage: „Was ist der Zweck des Daseins?“ hat die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigt. Die Epikuräer wichen dieser Frage aus und handelten nach dem Grundsatz: „Lasset uns essen und trinken und fröhlich sein, denn morgen sind wir tot.“ Die Spartaner beantworteten sie durch die Entwicklung ihrer physischen Körper. Für viele bestand der Zweck des Daseins im Erwerben von Reichtum oder materiellen Gütern, für andere im Sammeln von materieller Kenntnis, für wieder andere war er untrennbar von einer menschlichen Persönlichkeit. Der Durchschnittsmensch, dessen Aufmerksamkeit gänzlich von den Angelegenheiten des täglichen Lebens in Anspruch genommen wird, ist der Meinung, der Zweck des Daseins bestehe darin, genug Geld zu verdienen, um die materiellen Bedürfnisse zu decken. Sodann gibt es solche, die den Zweck des Daseins in der Verwirklichung hoher Ideale sehen, in der Befreiung der Menschen oder in der Durchführung nötiger Reformen. Für den Maler ist der Lebenszweck das Herstellen eines herrlichen Gemäldes, für den Schriftsteller das Verfassen eines außerordentlichen Buches, für den Erfinder das Vervollkommnen einer neuen Maschine. Und doch, nachdem alles gesagt und getan ist, nachdem der materielle Zweck erreicht ist, möge er auch, dem geleisteten Dienste entsprechend, eine Zeitlang Freude bereiten, so macht sich doch das Sehnen nach etwas Höherem geltend, und die Frage: „Was ist denn nur der Zweck des Daseins?“ bleibt unbeantwortet.
In allen Menschenklassen, mögen sie hoch oder niedrig sein, gibt es solche, die so von Kummer, von Müdigkeit, von der Schlechtigkeit des materiellen Daseins überwältigt sind, daß sie in der Verzweiflung fragen, was es denn alles zu bedeuten habe, und sie rufen mit Hiob aus: „Meine Seele verdrießt mein Leben.“ Sie sind es müde, nach Schatten zu haschen, materiellen Göttern zu dienen und materiellen Zielen zuzustreben. Daher tappen sie nach etwas Besserem umher und sehnen sich, wenn auch fast unbewußt, nach geistiger Erkenntnis. Um aber das Dasein zu verstehen, müssen wir den Quell alles wahren Seins kennen lernen. Mrs. Eddy sagt in Miscellany (S. 306): „Nur die Gottheit löst die Probleme der Menschheit.“
Um das Wesen Gottes kennen zu lernen, wenden wir uns naturgemäß der Bibel zu, die, im Lichte der Lehren der Christlichen Wissenschaft betrachtet, zum wunderbaren Führer in allen Dingen wird. Wir finden, daß die Patriarchen und Propheten herrliche Lichtblicke von Gott hatten, daß aber Christus Jesus das göttliche Wesen in vollstem Maße zum Ausdruck brachte. Er war der gottähnlichste Mensch, der höchste und beste Ausdruck Gottes. Seine Aufgabe bestand darin, das Wesen Gottes zu offenbaren, nicht allein in Worten, sondern ganz besonders durch sein Heilungswerk. Wenn wir das Erdenleben Jesu ernstlich betrachten und dessen Bedeutung erfassen, so erleuchten und erweitern seine Worte und Werke unseren Begriff vom Dasein und lassen uns so manches sehen, was bei der Lösung unserer täglichen Probleme anwendbar ist.
Jesus sagte zu wiederholten Malen: „Ich und der Vater sind eins;“ „Wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat;“ „Ich rede, was ich von meinem Vater gesehen habe.“ Und in folgenden Worten beschreibt er seine Beziehung zu Gott noch näher: „Der Sohn kann nichts von sich selber tun, sondern was er siehet den Vater tun; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn,“ und: „Ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der mich gesandt hat.“ Vielleicht ruft einer von uns aus wie Philippus: „Zeige uns den Vater, so genüget uns.“ In solchem Fall verdienen wir denselben Verweis, den Philippus erhielt; denn hat uns nicht Jesus gesagt, daß die Erkenntnis von ihm und seinen Werken den Vater offenbart?
Jesus widmete sich von Kindheit an dem Dienste Gottes und des Menschen. Er heilte später alle Arten von Krankheit und Sünde und überwand den Tod. Ohne Unterlaß wies er die Menschen auf bessere Dinge hin, indem er eine gegenwärtige Erlösung und das jetzt vorhandene Reich Gottes verkündigte. Er offenbarte Gott als Geist, als gut, als allmächtig und ewig, als unendliche Wahrheit und unendliche Liebe, als stets unter den Menschen wohnend, wo Er in den geistig Erweckten und durch sie wirkt. Für Jesus war der Mensch mehr als eine Zusammensetzung von Fleisch, Blut und Knochen. Er durchschaute den fleischlichen Menschen samt seinen Schwachheiten, Krankheiten und Sünden, sah über ihn hinaus und erkannte den wahren Menschen, der untrennbar ist von dem Vater — ja der Gottes Ebenbild ist, das nur die Eigenschaften der Gottheit wiederspiegelt. Trotz des bittersten Widerstandes, trotz aller Gleichgültigkeit gegen die wunderbare Botschaft Gottes, die er gebracht hatte, trotz aller Beschimpfung und Grausamkeit, die ihm angetan wurde, setzte er furchtlos alle materiellen Bestrebungen, alle materiellen Verfahrungsarten beiseite beiseite und gab sich mit vollem Eifer der Aufgabe hin, den Willen des Vaters zu tun. Für ihn bestand der Zweck des Daseins einzig und allein darin, den Vater zu offenbaren.
Christus Jesus erklärte: „Ich bin der Weg ...; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Mit diesen Worten ist deutlich gesagt, daß uns das Leben Jesu zum Vorbild, zur Richtschnur dienen soll. Jesus is der Wegweiser. Welch wunderbare Gelegenheit, welch herrlichen Ausblick auf das Dasein haben wir, wenn wir es uns zur Aufgabe machen, dem Beispiel des Meisters gemäß die werktätige Gotteserkenntnis zu gewinnen. Es ist ein Zweck, der nicht durch eine laue Handlungsweise erreicht werden kann. Darum sagt Mrs. Eddy (Wissenschaft und Gesundheit, S. 3): „Gott verstehen ist das Werk der Ewigkeit und erfordert absolute Hingabe der Gedanken, der Energie und des Verlangens.“ Gar manche Gebote, gar manche trostreichen Worte hat uns Jesus mit auf den Weg gegeben. Sein Schüler Paulus und viele andere unter den ersten Christen gehorchten seinen Geboten. Später verdunkelte der materielle Sinn den Blick, und Jesu sogenannte Nachfolger verloren sich auf den Nebenwegen der materiellen Annahmen. Wie konnte doch die Materialität die Aufmerksamkeit der Menschen so sehr in Anspruch nehmen, daß diese so viele Jahrhunderte hindurch die herrliche Bedeutung der Laufbahn Jesu verlor! Es blieb einer alleinstehenden, unerschrockenen Frau vorbehalten, diesen Weg wiederzuentdecken. Diese Frau war Mary Baker Eddy. Vermöge ihres ernsten, unermüdlichen Strebens, das Rätsel des Daseins zu lösen, konnte sie die Heilige Schrift im klaren Lichte lesen, und dadurch fand sie Gott. Von der Zeit an war es ihr Lebenszweck, der Menschheit ihre wundervolle Entdeckung deutlich zu erklären. Und dabei gab sie ihren Nachfolgern die Ermahnung: „Folget eurer Führerin nur insofern sie dem Christus folgt“ (Message for 1901, S. 34).
Im Evangelium des Johannes (Kap. 14) wird uns der Tröster verheißen, „der Geist der Wahrheit;“ und dieser Tröster ist uns in der Christlichen Wissenschaft zuteil geworden. Von ihm heißt es ferner, er werde uns an alles erinnern, was Jesus gesagt hat. Bringt uns nicht die Christliche Wissenschaft all die Worte und Zusagen Jesus in Erinnerung? Die Gebote, welche bisher nur die Vergangenheit anzugehen schienen, haben jetzt für uns eine wunderbare Bedeutung. Wir sehen nun ein, daß wir alle Gebote Jesu halten müssen, wofern wir auf dem Weg wandeln wollen, den er uns gezeigt hat; und wir wissen, daß der Gehorsam gegen diese Gebote nicht schwer ist. Dieser Gehorsam wird uns dann zum Daseinszweck.
Auf diese Weise finden wir eine befriedigende Antwort auf die Frage: Was ist der Zweck des Daseins? Er besteht für uns darin, daß wir Gott und Seine Gesetze tagtäglich im Denken, Reden und Handeln kundtun — ja dadurch, daß wir die Werke verstehen und tun, die Christus Jesus tat. Nicht nur durch das Vollbringen großer Dinge tun wir die Werke, die den Vater offenbaren, sondern wir können ihn auch durch all die scheinbar unbedeutenden und unwichtigen Handlungen des täglichen Lebens ehren. In dem Maße, wie wir unsere Gotteserkenntnis in den kleinen Dingen des Alltagslebens anwenden, werden wir „über viel“ gesetzt werden. Dies ist uns trotz aller scheinbaren Schwierigkeiten möglich, wie uns Paulus versichert, wenn er sagt: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes.“