So mancher, der sich eben erst um Hilfe der Christlichen Wissenschaft zugewandt hat, wundert sich nicht wenig, warum ihm der Praktiker so viel von Gott erzählt, anstatt ihn aufzufordern, seine Leiden ausführlich zu beschreiben. Wohl gibt er zu, daß es ganz in Ordnung sei, am Sonntag und bei anderen passenden Gelegenheiten von Gott zu reden; wie das aber ihm helfen könnte, das kann er nicht recht einsehen. Er hat sein Geschäft im Stich gelassen, hat einen längeren Weg zurückgelegt, hat viel wertvolle Zeit versäumt, um mit dem Praktiker, sagen wir, über seinen Rheumatismus zu reden; und wie ärgerlich ist er dann, daß der Gegenstand fast gänzlich vermieden wird.
Die Person, die ihm zu helfen sucht, erlaubt ihm, sein Leiden im allgemeinen zu erklären: wenn er aber anfängt, zu erzählen, wie lange er es gehabt habe, was das Urteil des letzten Arztes gewesen sei, wie es sich fühle, wie das affektierte Glied aussehe, wie es ihm den Schlaf raube und wie sein Großvater damit behaftet gewesen sei, so merkt er bald, daß dem Gespräch eine andere Richtung gegeben worden ist. Es scheint, sie werden jetzt von Gott reden, möge es ihm recht sein oder nicht. Und doch, während er zuhorcht und vielleicht aus Höflichkeit nicht sagt, was er tatsächlich denkt, wird er aufmerksam auf das, was ihm von Gott erzählt wird, der Liebe ist und der nie will, daß Seine Kinder krank oder unglücklich sein sollen, sowie von dem Menschen, der Gottes teures Kind ist und nie von des Vaters liebevoller Fürsorge getrennt werden kann. Das steht ja alles in der Bibel und ist durchaus nicht neu. Und doch merkt er auf dem Weg zum Büro auf einmal, daß er sich weit besser fühlt, und er wundert sich darüber.
Solchen, die nicht verstehen können, worin die sogenannte „Verbindung“ besteht, dürfte folgende Veranschaulichung behilflich sein. Angenommen, ein Mensch befindet sich in einer finsteren Höhle. Sie ist so finster, daß er nicht die Hand vor dem Gesicht sehen kann. Während er so dasteht, hört er eine Stimme neben sich sagen: „Gerade hier in dieser Höhle sind Reichtümer, die deine kühnsten Träume übersteigen, Reichtümer, die so fabelhaft sind, daß die menschliche Sprache sie dir nicht beschreiben kann. Sie gehören dir. Du hast nur voran zu gehen und zuzugreifen. Was beliebt dir zuerst?“ Indem nun der Mensch unentschlossen in der Finsternis dasteht, die Stimme hört, aber niemand sieht, wird er wohl sagen: „Mein Freund, ich höre, was du sagst und will es gerne glauben. Aber wenn das alles wirklich hier vorhanden ist und ich es je erlangen soll, so muß ich vor allen Dingen etwas mehr Licht haben.“
In des Vaters Haus mit den vielen Wohnungen, von denen Jesus sprach, sind für einen jeden von uns gute Dinge bereit — Dinge, die die menschliche Sprache nicht beschreiben und der menschliche Geist nicht fassen kann; ein ungeheurer geistiger Reichtum, der alles übersteigt, was die Welt zu bieten hat; kostbare Perlen, wie Friede, Freude, Glück, Arbeit, die Fähigkeit, sich nützlich zu erweisen, Freunde, Liebe, Gesundheit, eine Heimat und Himmel. Heute, ja zur jetzigen Stunde, befinden wir uns da, wo dies alles und weit mehr zu erlangen ist. Warum greifen wir nicht zu? Weil wir, wie der Mensch in der Höhle, die Schätze nicht sehen. Ja selbst dann noch, wenn uns die Stimme sagt, daß die Schätze da sind und uns gehören, ist es so dunkel, daß wir nicht wissen, in welcher Richtung wir uns wenden oder wohin wir gehen sollen, um sie zu finden. Mehr Licht — das ist es, was die traurige Welt nötig hat, die Welt, die in die stygische Finsternis ihrer materiellen Annahmen gehüllt ist; und da Gott Licht ist, „und in ihm ist keine Finsternis,“ wie der geliebte Jünger sagt, so folgt daraus, daß wir umso mehr Licht zur Ausarbeitung unserer verschiedenartigen Probleme haben, je höher unsere Gotteserkenntnis ist.
Die verständnisvolle Anwendung der Wahrheit über Gott auf irgendeine Sachlage bildet eine christlich-wissenschaftliche Behandlung. Sie gibt uns gleichsam das fehlende Licht. Das Licht bringt nichts in die Höhle und entfernt nichts aus der Höhle, was nicht bereits von Anfang an dagewesen war. Genau so verhält es sich mit einer christlich-wissenschaftlichen Behandlung. Sie ändert auch nicht das geringste an den ewigen Tatsachen der vollkommenen Schöpfung Gottes, vielmehr befähigt sie uns, diese Tatsachen zu sehen. Wie das Kommen des Lichtes das Schwinden der Finsternis verursacht, so verursacht das Kommen der Wahrheit in das Bewußtsein das Schwinden des sogenannten „Irrtums“— der Täuschung, der Lüge, des Rheumatismus, oder was man es zur Zeit nennen mag —, und er verschwindet ebenso natürlich und ebenso gewiß. Der Vorgang ist ebensowenig ein Wunder wie das Ausarbeiten der Lösung eines mathematischen Problems. In beiden Fällen handelt es sich um das einfache, logische Ergebnis der Erkenntnis und richtigen Anwendung eines Prinzips.
Und wie müssen wir dabei zu Werke gehen? Genau in derselben Weise wie Jesus vor Jahrhunderten. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 476) sagt Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint.“ Welch hohen Wert hätte es doch für einen jeden von uns, wenn wir zu allen Zeiten und unter allen Umständen desgleichen tun würden — wenn wir in der Wissenschaft nicht nur den vollkommenen Menschen, sondern auch das vollkommene Weltall sehen könnten, das Weltall, welches von einen unendlichen und allerhabenen Intelligenz, Gott genannt, regiert wird. Allerdings mag das Erlangen dieser himmlischen Vision nicht das Werk eines Augenblicks sein, denn, wie wir auf Seite 513 unseres Lehrbuchs lesen: „Für den materiellen Sinn liegt dieses göttliche Weltall in trüber, grauer Ferne, in den düstern Farben des Zwielichts, aber alsbald wird der Schleier gelüftet, und die Szene rückt ins Licht.“
Wenn wir erkannt haben, daß uns diese Erkenntnis möglich ist, dann können wir mutig vordringen, selbst wenn das Licht nicht so rasch kommt, wie wir wünschen. Um das vollkommene, von Gott erschaffene Weltall zu schauen, ist unsererseits viel geduldige Arbeit viel Ausdauer, Treue, Ehrlichkeit, Liebe und Hingabe. Es kostet so manchen Kampf mit dem eigenen Ich, mit Stolz, mit Vorurteil, mit vorgefaßten menschlichen Meinungen. Ein tägliches, stündliches Überwinden all der Dinge, die Gott unähnlich sind, ist unvermeidlich. Doch welche Freude bereitet es, wenn man sieht, wie die Finsternis allmählich licht wird, wie die guten Dinge erscheinen, die für uns bereitet sind von Anbeginn der Welt und die nur unser harren. Wie einfach ist es doch für den Menschen in der Höhle, vorzutreten und das Seine in Empfang zu nehmen. Wer dies erwägt, fängt an einzusehen, wie wichtig es ist, sich zuerst über das Wesen Gottes klar zu werden. Der Praktiker verschwendete also keine Zeit, als er unsere Gedanken von dem falschen Zeugnis der materiellen Sinne ablenkte und uns auf die Güte und Liebe unseres himmlischen Vaters hinwies. Das fortwährende Wiederholen unserer Leiden steigert nur die Finsternis, und deshalb wurden wir in diesem Verfahren nicht bestärkt. Wir wollten mehr Licht sehen und nicht mehr Finsternis.
Wie herrlich ist es doch, auch nur den ersten schwachen Strahl der ewigen Wahrheit zu erhaschen, daß der Mensch der Sohn Gottes ist und nicht ein armes, von Krankheit verkrüppeltes Wesen! Wir fangen an einzusehen, daß der Irrtum umso unwirklicher wird und umso mehr an Einfluß über uns verliert, je weniger wir über ihn sprechen, über ihn nachdenken oder ihm Raum oder Macht in unserem Leben geben; daß wir uns umso mehr schon hier und jetzt des göttlichen Schutzes vor allem Bösen bewußt werden können, je mehr wir über Gott und Seine wunderbare Fürsorge für Seine Kinder nachdenken, ja für die Geringsten unter ihnen. Wo Er ist, herrscht keine Finsternis, und Er ist überall. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 503) sagt unsere Führerin: „In dem Universum der Wahrheit ist die Materie unbekannt. Keine Voraussetzung des Irrtums dringt hier ein. Die göttliche Wissenschaft, das Wort Gottes, sagt zu der Finsternis auf dem Angesicht des Irrtums:, Gott ist Alles-in-allem,‛ und das Licht der immergegenwärtigen Liebe erleuchtet das Universum.“
In diesem göttlich erleuchteten Weltall gibt es kein Problem, das so verwickelt, so schwierig, so hoffnungslos wäre, als daß die Wahrheit es nicht lösen könnte. So wollen wir uns denn mit Mut und Vertrauen von dem abwenden, was unsere Aufmerksamkeit so lange in Anspruch genommen hat, und wollen statt dessen mit dankbarem, erleichtertem Herzen die unaussprechliche Herrlichkeit jenes unendlichen und allmächtigen Gemüts betrachten, das stets in wahren Ideen zum Ausdruck kommt, nie aber in den krankhaften Vorstellungen des sterblichen Sinnes, der alles ausmacht, was die Menschen vom sogenannten Dasein wissen. Wir wollen uns freuen, daß wir wenigstens einen Strahl von dem Licht erhascht haben, das da „scheint in der Finsternis,“ obgleich die Finsternis es nicht begreift. Eins ist gewiß: die Welt kann uns nie wieder so dunkel vorkommen. Ferner wissen wir, daß, wenn wir beharrlich vordringen, die schwachen Strahlen des Lichtes, welches wir bereits gesehen haben, an Klarheit und Schönheit zunehmen und unseren Pfad immer mehr erleuchten werden „bis auf den vollen Tag.“